17. Dezember 2012

Im Herzen der Kirche und zugleich ganz draußen

Von nst1

Das Zweite Vatikanische Konzil hat bei seinem Beginn vor 50 Jahren in der katholischen Kirche eine ungeheure Aufbruchstimmung ausgelöst. Was ist davon übrig geblieben?

Immer wieder ist vom „Geist des Konzils“ die Rede. Was ist damit gemeint?
KÖRNER: Das wird an der Eröffnungsansprache von Johannes XXIII. klar. Er nahm darin Bezug auf Leute, die glauben, dass in der modernen Zeit gewissermaßen von selbst alles schlechter wird. Und er sagte ausdrücklich, ich stimme mit diesen „Unheilspropheten“ nicht überein. Da weht ein anderer Geist, der sich an die Seite der Welt stellt, der an das Gute, ja an das vielleicht verborgene Wirken Gottes in ihr glaubt.

So heißt es im Missionsdekret „Ad gentes“, wenn Christen das Evangelium verkünden, sollen sie zuerst schauen, was Gott in den anderen Kulturen schon Großes getan hat. Man sah also sehr auf das Positive und ging offensiv darauf zu und nicht sofort in Verteidigungsstellung. Das zeigt den Geist des Konzils. Allerdings vertrat ein Teil der Konzilsväter eher die Linie, die Kirche muss sich wie eine Festung vor der Welt schützen.

Damit man sich im Blick auf den Geist des Konzils nicht in Spekulationen verläuft, halte ich den Hinweis der Sondersynode 20 Jahre nach Ende des Konzils – 1985 – für bedeutsam: Man darf Geist und Text des Konzils nicht trennen.

Hat das Konzil denn etwas in der Kirche verändert?
KÖRNER: Wie schon gesagt, hat sich grundsätzlich die Einstellung zur Gesellschaft geändert. Am nachhaltigsten und sichtbarsten aber ist die Veränderung in der Liturgie. Vor dem Konzil war in aller Welt die Ordnung der Liturgie bis ins Detail in gleicher Weise geregelt. Überall wurde die heilige Messe auf Latein gefeiert, was eine große Übereinstimmung mit sich brachte, aber auch für die meisten wohl zu einer Passivität im Gottesdienst geführt hat.

In der Liturgie spiegelt sich auch ein bestimmtes Kirchenverständnis. Das Konzil hat daran erinnert, dass die Eucharistie nicht allein der Priester feiert, und die anderen, wie es zuvor geheißen hat, „hören“ die Messe oder „wohnen ihr andächtig bei“, sondern mit dem Priester feiert die ganze Gemeinde. Auf einmal gab es Lektoren, Kantoren, Kommunionhelfer. Darin zeigt sich die Auffassung, dass Kirche das ganze Volk Gottes ist. Aber es könnte auch vieles andere genannt werden…

Geht die katholische Kirche mittlerweile gegenüber den Aussagen des Konzils wieder zurück?
KÖRNER: Noch in den 60-er Jahren tauchte die Formulierung auf, das Konzil war der „Anfang eines Anfangs“. Das heißt, es hat Bewegung in die Kirche gebracht und diese Bewegung müsse immer weitergehen. Damit stellt sich freilich die Frage, wie sich Treue zum Ursprung und zur eigenen Geschichte und das Ernstnehmen der „Welt von heute“ zueinander verhalten.

Papst Benedikt und mit ihm die allermeisten Verantwortlichen wollen selbstverständlich nicht hinter das Konzil zurück. Da gibt es für mich keinen Zweifel. Manche plädieren heute aber für eine Konsolidierung oder sehen Grenzen erreicht, die man nicht überschreiten dürfe.

Ich sehe aber auch, dass sich die Menschen verändert haben. Ein nicht geringer Teil der sogenannten Progressiven besteht heute aus den 60- und 70-Jährigen. Die junge Generation ist wieder anders. Nicht wenige von ihnen haben mit Dingen, die Älteren Schwierigkeiten bereiten, kein Problem. Sie kommen aus der Verunsicherung und wollen Stabilität. Die Konzilsgeneration damals ist aus einer Überstabilität gekommen und wollte Bewegung. Und in diesem komplexen gesellschaftlichen und kirchlichen Prozess schaut dann manches danach aus, als würde zurückgerudert.

Wollte das Konzil Türen aufstoßen in Räume, die erst noch beschritten werden müssen?
KÖRNER: Das Konzil hat die Aussagen des Glaubens nicht geändert, aber ernst gemacht mit der Einsicht, dass die Art und Weise, wie der Glaube formuliert und umgesetzt wird, vom Kontext abhängt. In einer sich schnell verändernden Welt ist wichtig, dass wir die „Zeichen der Zeit“ ernst nehmen, dabei aber auch die Geister unterscheiden. Das ist ein wichtiger Gedanke in der Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“, der anregt herauszufinden, welche Aufgaben sich für Christen aus den gegenwärtigen Zeitumständen, Ereignissen und Entwicklungen ergeben.

In der Gesellschaft stimmt man heute zum Beispiel überein, dass Frauen und Männer gleichzustellen sind. Was bedeutet das für eine Kirche, in der das männliche Element dominiert? Oder: Welche Konsequenzen hat es, das kulturelle Umfeld in Afrika oder Asien, aber auch die Veränderungen in Europa zu berücksichtigen? Setzt man das um, bekommt die Kirche eine innere Pluralität, die auch die Frage aufwirft, wie man da noch Einheit konkret leben kann.

Die einen finden ihre „konservative“, andere ihre „progressive“ Einstellung in den Konzilstexten bestätigt. Wie ist das möglich?
KÖRNER: Das eine: Wenn man die Texte nicht als Ganzes nimmt, sondern nur einzelne Passagen, kann man sie progressiv oder konservativ lesen. Aber genau das ist problematisch. Das zweite ist die theologische Sprache des Konzils, die sich stark an der Bibel und den Kirchenvätern orientiert und daher interpretationsbedürftiger ist als eine mehr juristische Sprache.

Dazu kommt: Schon Johannes XXIII. hat das Konzil als ein pastorales, also auf die heutige Lebenswirklichkeit ausgerichtetes Konzil verstanden. Einige wenige meinen, dass es deshalb keine verbindliche Lehre vorgelegt hat. Sie sehen in den Texten nur Formulierungsvorschläge für die Praxis. Dem ist aber zu widersprechen. Schon der Konzilstheologe Joseph Ratzinger hat darauf hingewiesen, dass nach der Absicht des Konzils der pastorale und der lehrmäßige Aspekt nicht getrennt werden dürfen.

Wo hat das Konzil Impulse gesetzt, die noch nicht voll ausgeschöpft sind?
KÖRNER: Mir scheint es eine grundlegende Einsicht zu sein, dass jede Generation sich den Glauben neu erobern muss. Es gibt hier keinen gesicherten Besitz. Was in einer Pfarre erreicht war, kann zehn Jahre später wieder weg sein. Auch das Konzil ist nicht ein für alle Mal ausgeschöpft.

Dazu kommt: Wir haben durch das Konzil die Mentalität eines geschlossenen katholischen Bereiches aufgegeben. Früher sind wir nicht einmal in eine evangelische Kirche hineingegangen, und heute machen wir Ökumene. Das verändert uns ja, dass wir sehen, ah, da gibt es andere Christen und die machen auch ganz ernst mit dem Glauben, aber anders als wir. Das braucht einen neuen Anlauf in der Frage, was unsere katholische Identität ist.

Noch stärker macht uns das gesellschaftliche Bewusstsein zu schaffen, dem wir ausgesetzt sind. Da kann man lernen, aber es birgt auch die Gefahr, sich und seine Klarheit zu verlieren. Auch deshalb ist eine Vertiefung und Absicherung des Glaubens notwendig.

Dazu kommen noch andere Aufgaben: Mit der Bibel so umzugehen, dass man davon leben kann. Oder: Wie können wir die Feier der Eucharistie verstehen und anderen helfen zu begreifen, dass sie etwas ganz Einzigartiges ist? Was machen wir mit der Gefahr des Klerikalismus, Verflachung des Glaubens, Überorganisation, Bürokratie… Wie geht es weiter im Dialog mit den anderen Weltreligionen? Da gibt es die einen, die davon nichts wissen wollen, und die anderen, denen das Einzigartige Jesu aus dem Blick gerät. Wie schaffen wir es hier, ganz im Herzen des Glaubens und der Kirche und zugleich ganz draußen zu sein? Das ist eine Aufgabe, die wir neu lösen müssen. Wir stehen mit den Perspektiven, die das Konzil eröffnet hat, oft noch ganz am Anfang.

Was schlagen Sie vor, um bei den sogenannten „heißen Eisen“ etwas voranzubringen und die Kirche doch zusammenzuhalten?
KÖRNER: Ganz wichtig scheint mir eine neue Kommunikationskultur auf allen Ebenen. Wie gehen wir miteinander um, wie kommen wir zu wirklichen Gesprächen? Ignatius von Loyola hat gesagt, man soll die Meinung des anderen „retten“, also das Positive herausholen, davon ausgehen, dass er so gescheit und moralisch integer ist, wie ich das von mir selbst auch denke. Wenn wir so aufeinander eingehen, werden wir auch die Schwachstellen der Kirche angehen können – miteinander, nicht gegeneinander.

Ab Oktober hat die Kirche ein „Jahr des Glaubens“ ausgerufen. Was kann es bringen?
KÖRNER: Was unseren Glauben angeht, sind viele in der Kirche kaum noch auskunfts- und argumentationsfähig. Können wir anderen weltanschaulichen und religiösen Positionen gegenüber – vom Islam bis zum Atheismus – unser spezifisch christliches und katholisches Profil noch erklären? Früher hat es eine Vielzahl von Katholiken gegeben, die waren clever und konnten auch in heftigen Diskussionen den Kopf gut über Wasser halten. Heute ruft man gleich nach theologischen Experten. Aber eigentlich müsste doch jeder erwachsene Christ, jede Christin Auskunft geben können! Mit diesem Ziel sehe ich das Jahr des Glaubens als Chance.

Herzlichen Dank für das Gespräch.
Clemens Behr.

Bernhard Körner, geboren 1949 in Klagenfurt, hat in Graz und Tübingen Theologie studiert und wurde 1976 zum Priester geweiht. Seit 1992 ist er Professor für Dogmatik an der Universität Graz.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Oktober 2012)
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