Wunderkammer Elternhaus
Zu Weihnachten werden oft schon kleine Kinder mit Spielzeug überhäuft. Dabei haben auch alltägliche Gegenstände für sie einen großen Wert: Gerade die unscheinbaren Dinge bringen sie in ihrer Entwicklung voran, sagt die Pädagogin Donata Elschenbroich.
Was bewirkt eine Fülle an Geschenken bei Kindern?
ELSCHENBROICH: Nicht nur den Kindern drängen sich die Dinge auf in unserer reichen Dinge-Welt. Auch wir Erwachsenen fühlen uns oft belagert von zuviel Kram. Die Weihnachtszeit ist eine ding-intensive Zeit, besonders für Kinder, ähnlich wie Umzüge für Erwachsene. Es ist eine anstrengende Zeit, denn Dinge sind nicht stumm; es gehen Appelle von ihnen aus. Das Kind muss die Dinge immer wieder für sich selbst konstruieren, muss entscheiden: Was tue ich damit, gefällt es mir, kann ich es brauchen, wofür, und wohin damit?
Dazu steht noch die soziale Erwartung im Raum, dass man sich über ein Geschenk freuen, bei der Patentante oder bei den Omis bedanken soll. Aber die meisten Kinder haben schon so vieles, und sogar doppelt und dreifach. Ihre Schuld ist es nicht, wenn sie oft lustlos oder achtlos wirken im Umgang mit den vielen Dingen in ihren Kinderzimmern. Wenn sie verwöhnt wirken, sind sie oft einfach überfordert.
An materiellen Dingen fehlt es wenigen Mädchen und Jungen. Fehlt ihnen heute etwas anderes?
ELSCHENBROICH: Die Befriedigung beim Konsumieren scheint bei uns allen nicht wirklich tief zu gehen und nicht sehr anhaltend zu sein. Wenn wir dagegen neun Monate alte Babys beobachten, wie sie sich mühen, einen unter die Couch gerollten Schneebesen wieder hervorzuangeln, wie sie nicht aufgeben, bis ihr selbst gestelltes Problem gelöst ist, dann erkennen wir, dass der Mensch nicht grundsätzlich das Freizeitparadies sucht oder das Schlaraffenland. Ein Kind will seine Kräfte spüren, seine Sinneswahrnehmungen intensivieren. Es will etwas bewirken, verändern können. Dabei erfährt es sich selbst. Diese Erfahrung der Selbstwirksamkeit, wie man es heute nennt, kommt bei vielem kommerziellen Spielzeug zu kurz. Da ist zuviel vorgedacht, da wird das Kind nur noch zum Handlanger.
Sie schlagen Kindergärten vor, das Spielzeug für eine Weile auf Urlaub zu schicken. Warum?
ELSCHENBROICH: Die Idee der „spielzeugfreien Wochen“ ist mittlerweile zwanzig Jahre alt und wird von vielen Kindergärten ein-, zweimal im Jahr praktiziert. Immer in Absprache mit den Kindern: Wollen wir unser Spielzeug eine Zeitlang in Urlaub schicken? Es bleiben die Möbel, Wolldecken, vielleicht auch Schnüre und Papier. Die Kinder lassen sich gern ein auf dieses Experiment. Und dann, so berichten die Pädagogen übereinstimmend, stellen sich andere Spiele ein: längere Spielsequenzen, komplexere Spiele, neue Zusammensetzungen von Kindergruppen. Manche Eltern hat das überzeugt, und sie verabreden auch zuhause spielzeugfreie Zeiten. Danach werden die Kinder gefragt, ob sie ihre Dinge wieder abholen wollen. Das wollen sie dann, aber meist nicht alles auf einmal. Ihren Dingen, ihrer „Kindheitsausstattung“, begegnen sie danach aufmerksamer.
Sie legen das Augenmerk auf die kleinen Dinge: Was zum Beispiel?
ELSCHENBROICH: Ein Elternhaus kann eine Wunderkammer sein. Wieviel menschlicher Erfindungsreichtum steckt in Küchengeräten und Werkzeugen! Die Wasserwaage, das Rührgerät, die Sanduhr, ein Mörser mit Stößel, ein Magnet… An diese Dinge gemeinsam nah herangehen, physisch nah, sich über sie wundern – „gut ausgedacht, gut gemacht“ – das bahnt im Kind eine Haltung an: nicht nur Respekt gegenüber der Dingwelt, gegenüber der Umwelt überhaupt. Die Dinge erscheinen danach nicht nur als selbstverständlich vorhanden, als eine Art von nachwachsendem Rohstoff. Und das Kind erlebt die Welt nicht als einen Ort, in dem man einfach nur abräumt.
Was haben diese alltäglichen Gegenstände, was Hörbücher, Computerspiele oder andere moderne Spielgeräte nicht haben?
ELSCHENBROICH: Ich will die Alltagsgegenstände ja nicht gegen Hörbücher oder gegen alle Spielgeräte ausspielen. Aber da niemand Reklame für eine Knopfsammlung oder eine Balkenwaage im Leben von Kindern macht, übernehme ich das. Das Spannende an Alltagsgegenständen ist ihre Vieldeutigkeit. Dafür haben Kinder noch feinere Antennen, anders als wir nüchtern und pragmatisch gewordenen Erwachsenen.
In unserem Projekt „Weltwissenvitrinen: Wunderkammern des Alltags“ haben wir eine alte Balkenwaage auf einen Familientisch gestellt. Die haben dann alle fünf Familienmitglieder untersucht und ausprobiert. Und dann kamen die fünfjährigen Zwillinge irgendwann auf die Idee, ihre Köpfe zu wiegen. Und sie haben, geradezu artistisch, ihr Kopf-Gewicht auf den Waagschalen so kontrolliert, dass die Waage im Gleichgewicht schwebte. Die Eltern waren sehr berührt und haben die Fähigkeit ihrer Kinder erkannt, ein Mehr in den Dingen zu entdecken. Das ist mit vorfabriziertem Spielzeug nicht so einfach; das ist oft übereindeutig, schreibt schon so vieles vor.
Wie unterscheidet sich ein Lernen anhand von einfachen Dingen vom Lernen, wie es in der Schule vermittelt wird?
ELSCHENBROICH: Die Alltagsdinge sind gar nicht so einfach! Wenn Sie den Kindern zuschauen, was die alles mit einer Stimmgabel anstellen, welche komplexen Verwendungsmöglichkeiten sie für ein billiges Gerät finden! Das geht zuhause besser als in der Schule, weil das Elternhaus mehr Alltag auf seiner Seite hat als der Kindergarten und erst recht als später die Schule. Den phantasiereichen, spontanen Umgang der Kinder mit den Alltagsdingen in eine pragmatische Richtung zu führen, ihn zu disziplinieren, so kann man auch sagen, daran führt kein Weg vorbei. Aber die Schule sollte länger und deutlicher das Lernen im Alltag, auch das Lernen in der Familienkommunikation, anerkennen. Und sie sollte es anregen. Die „Weltwissenvitrinen“, Sammlungen von interessanten Gegenständen und Werkzeugen zum Ausleihen, sind ein Versuch in diese Richtung.
Wenn sich das Kind intensiv mit Dingen beschäftigt, die Vater, Mutter, Opa oder Oma gehören oder ihnen früher wichtig waren, wie wirkt sich das auf seine Beziehung zur jeweiligen Person aus?
ELSCHENBROICH: Sachforschung ist immer auch zugleich Sozialforschung! Das beginnt sehr früh – der Blick der Babys wandert immer wieder vom betrachteten oder befühlten Gegenstand zum Erwachsenen: Was sagt der dazu? Als wir in unserem Weltwissenvitrinen-Projekt die Erwachsenen in Workshops gebeten haben, einen Gegenstand vorzustellen, der ihnen viel bedeutet, waren das überraschend häufig Gegenstände, die sie in der Hand von alten Menschen erlebt hatten. „Diese Gartenschere steht fürs Werkeln mit meiner Oma in den Bohnen. Schade, dass du nicht mehr lebst.“
Oft haben schon Kinder einen vollen Terminkalender. Ist das ein gutes Zeichen, dass ihre Talente gefördert werden, oder eher alarmierend, weil ihnen zu wenig Freiräume bleiben?
ELSCHENBROICH: Es gibt heute, das muss man einfach anerkennen, viel mehr interessante pädagogische Angebote außerhalb von Kindergarten und Schule als noch vor einigen Jahrzehnten, auch in Form von Kursen. Allerdings ist eine Gefahr, dass sich die Eltern dabei selbst dequalifizieren. Aber die Eltern sind wichtige Bildungsbegleiter. Das Elternhaus ist der primäre und ein eminent wichtiger Lernort. Wenn Eltern sich da mit ihren Kindern kleine Aufgaben vornehmen – „diese Baumscheibe aus der Weltwissenvitrine nehmen wir mal mit nach Hause und schauen sie uns in Ruhe an“ – , dann müssen die Erwachsenen bei einer solchen Sachforschung gar nicht alles besser wissen als ihre Kinder. Ein-, zweimal in der Woche ausdrücklich sollte es dafür Zeit geben: Ein Ding zusammen untersuchen, „gedankenerweckend“, wie der Pädagoge Martin Wagenschein das nannte. Das kostet nicht mehr Zeit, als das Kind zum Kurs zu kutschieren. Und es kann den Erwachsenen in gewisser Weise sogar Zeit und Ruhe schenken: Wir sind ja auch überfordert von den vielen digitalen Reizen. Die Kindergärten müssen lernen, kleine Bildungsaufgaben in die Familien zu geben: „Diese zwei Bücher fallen schon auseinander. Wer kann die bitte zuhause reparieren? Geht das bis nächste Woche?“
In einem unserer neuesten Filme 1) zeigen wir, wie Kinder abwechselnd die Servietten nach Hause mitnehmen, mit denen alle im Kindergarten essen. Stoffservietten, sehr gepflegt. Sie bügeln sie daheim, Jungen wie Mädchen. Was kann man dabei nicht alles lernen: manuelle Geschicklichkeit, Materialkunde, auch elementare Physik. Die Zeit, die die Eltern – oder die Tante – dem Kind dafür schenken, ist sicher oft produktiver und unvergesslicher als ein spektakulär geschenkverpacktes Spielzeug.
Herzlichen Dank für die Anregungen!
Clemens Behr
1) Elschenbroich/Schweitzer: „Je mehr man von der Welt weiß, um so interessanter wird sie“, 2012
Donata Elschenbroich,
geboren 1945 in Dresden, hat Musik und Literaturwissenschaft studiert und promovierte über die Kulturgeschichte der Kindheit. Für das Deutsche Jugendinstitut in München erforschte sie Kindheit und Erziehung zum Beispiel in Japan, Ungarn und Schweden. Die Bildungsexpertin gibt in Büchern wie „Weltwissen der Siebenjährigen“ (2001) und „Die Dinge – Expeditionen zu den Gegenständen des täglichen Lebens“ (2010) sowie in ihrer mit Otto Schweitzer produzierten Filmreihe „Wissen und Bindung“ Anregungen für Eltern und Erzieher. Sie hat drei erwachsene Kinder und lebt in Frankfurt am Main.
(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Dezember 2012)
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