Bis zum Ende durchhalten
Alberto Crestale aus dem Tessin begleitet seine demenzkranke Frau. Trotz vieler schwieriger Momente erfährt er dabei immer wieder die persönliche Liebe Gottes zu sich und zu ihr.
Als Alberto Crestale vor zwölf Jahren vorzeitig in Pension ging, hatte der heute 74-Jährige sich sein Leben anders vorgestellt. Als Leiter der Logistik-Abteilung eines Pharmazeutischen Betriebs im Tessin wollte er zusammen mit seiner Frau Idelma seinen Lebensabend genießen. Inzwischen verbringt der gebürtige Italiener fast jeden Nachmittag einige Stunden in einer Spezialklinik für Demenzkranke. Dorthin musste er seine Frau vor zwei Jahren bringen. „Sie hat keinen Kontakt mehr mit ihrer Außenwelt und auch auf Fragen reagiert sie nicht“, beschreibt Alberto Crestale den Zustand. „Aber Idelma ist ruhig, sie hat fast ständig ein Lächeln im Gesicht und wirkt gelassen.“
Vor gut 35 Jahren war die Familie aus Italien ins Tessin gekommen. Damals hatte die Firma, in der Alberto Crestale zunächst in der Qualitätssicherung und später im Logistik-Bereich arbeitete, eine Filiale in der Schweiz eröffnet. Mit den beiden inzwischen erwachsenen Söhnen hatten sie „ein unbeschwertes Leben mit vielen schönen und glücklichen Momenten“, erzählt Alberto Crestale, und dabei klingt nicht eine Spur Wehmut durch, eher Dankbarkeit.
Anfang der 1980er-Jahre hat Alberto Crestale zusammen mit seiner Frau die Fokolar-Bewegung kennengelernt. Zunächst hatte er die Handzettel zum ‚Wort des Lebens’, die Idelma von Bekannten erhielt, gar nicht richtig gelesen. Erst persönliche Begegnungen und die fast „mit Händen greifbare konkrete Liebe“ der neuen Freunde haben ihn dann so beeindruckt, dass er mehr wissen wollte. „So entdeckte ich nach und nach, dass jener Gott, der für mich damals so weit weg war, mir etwas zu sagen hat und etwas für mein Leben geben will.“
Dass es in seinem Leben und in dem seiner Frau einen roten Faden gibt, davon ist Alberto Crestale auch heute noch fest überzeugt. „Ich weiß nicht, wie ich auf die Krankheit von Idelma reagiert hätte, wenn ich damals diese Entdeckung der Liebe Gottes nicht gemacht hätte.“ Seit über 45 Jahren sind die Crestales verheiratet. Sie waren viel gereist, haben ihr Leben ausgekostet. Nicht zuletzt auch deshalb, weil seine gut bezahlte Arbeit ihnen die finanziellen Möglichkeiten dazu bot. Trotzdem ist sich der nüchterne Mann bewusst, dass seine Frau mit ihm und eben dieser Arbeit auch einiges mitgemacht hat. Vor allem in den letzten Jahren seines Berufslebens waren der Stress und die Arbeitszeiten zunehmend belastender geworden. Die Anforderungen, „die der Markt dem Unternehmen scheinbar diktierte“, waren für Alberto immer schwieriger zu akzeptieren. „Ich habe ständig mit meinem Chef diskutiert und viele Entscheidungen infragegestellt, weil sie immer weniger mit meinen christlichen Maßstäben vereinbar waren.“ Idelma hatte das alles „und vor allem mich sehr geduldig ertragen, wenn ich abends spät und genervt nach Hause kam.“
Etwa fünf Jahre haben sie den Ruhestand dann genossen, bevor Alberto immer öfter „eigenartige Veränderungen“ bei seiner Frau wahrnahm. „Idelma war immer sehr selbstständig gewesen. Sie hatte ihr eigenes Auto und eine Gruppe von Freundinnen, mit denen sie sich oft traf und auch gemeinsame Reisen unternahm. Sie hatte Theologie-Kurse besucht, Religionsunterricht erteilt, und sie war aktiv in Diözese und Pfarrei“, beschreibt Alberto Idelmas Leben bis dahin. Dann aber gab es immer öfter Situationen, in denen er ihr Verhalten nicht mehr verstand: „Sie wollte nicht mehr selber Auto fahren und ertrug selbst kurze Autofahrten wegen übertriebener Müdigkeit schlecht, so dass ich wiederholt anhalten musste. Mehrere Tage hintereinander kochte sie das gleiche Menü, trug tagelang die gleichen Kleider, verlegte Dinge und erinnerte sich dann nicht mehr, wohin sie sie getan hatte.“
Zunächst hatte Alberto das einfach als „komisch“ abgetan, „und sicher habe ich nicht immer mit der Geduld reagiert, die nötig gewesen wäre.“ Erst nach einiger Zeit gingen sie zu einem Facharzt; die Diagnose war hart: Frühstadium der Alzheimer-Krankheit.
Für mich war das ein Schock,“ erinnert sich Alberto. „Ich fühlte mich völlig ohnmächtig. Außerdem wusste ich nichts über diese Krankheit und auch nicht wie damit umgehen.“ Sein erster Impuls war, sich Bücher zu besorgen. „Vor allem aber habe ich mich dann mit den Kindern und Freunden beraten.“ Natürlich gab es viel Praktisches zu bedenken: „Ich musste lernen, den Haushalt zu führen,“ – und auch sonst einiges zu verarbeiten. Als später ein Freund aus der Fokolar-Bewegung zu ihm sagte: „Alberto, das ist ein Plan Gottes, und dem musst du mit Seiner Hilfe treu bleiben und alles bis zum Ende durchtragen“, traf ihn das tief. Fast kommen Alberto beim Erzählen auch heute noch die Tränen: „Es stand eine neue innere Entscheidung an.“ Und die reifte nach und nach: „Solange ich es schaffe,“ sagte er sich, „behalte ich sie bei mir zu Hause.“ Alberto verhehlt nicht, dass ihm erst nach und nach bewusst wurde, welchen Schwierigkeiten er damit entgegenging und welchen Einsatz ihm das abverlangte. „Doch“, unterstreicht er entschieden, „auch heute würde ich die gleiche Entscheidung wieder treffen.“
Die Krankheit nahm das Leben der beiden immer mehr in Beschlag. Idelma brauchte in allem Beistand und Hilfe; Alberto blieb keine Zeit mehr für seine Hobbys und er vernachlässigte seine Freundschaften. „Obgleich ich auf die Hilfe und Unterstützung vieler Personen zählen konnte, gab es in den verschiedenen Krankheitsphasen sehr harte und schwierige Momente“, gesteht Alberto. Manchmal ertappte er sich, wie er in Momenten der Mutlosigkeit mit Gott haderte. „Wo war seine Liebe?“, fragte er sich dann. Doch nach solchen Momenten der Verzagtheit, „kam jedes Mal seine Antwort, die mir wieder Mut und Kraft gab.“ So erinnert er sich, wie er einmal mit Gott gegrollt hatte, weil er wirklich nicht mehr konnte. Als er einige Tage darauf mit der Sozialhelferin seiner Region sprach, eröffnete sich unerwartet die Möglichkeit, Idelma wöchentlich zwei Tage in eine Tagesklinik zu bringen. Ein anderes Mal hatte er nach vielen Jahren ohne Ferien erfahren, dass Idelma drei Wochen in einer Klinik unterkommen konnte. Wie das für ihn war, drückt Alberto gern mit einem Bild aus: „Jedes Mal hatte ich den fast physischen Eindruck, dass Jesus mir auf die Schulter klopft und sagt: Schau, ich bin noch da, ich verlasse dich nicht!“
Nach fünf Jahren litt Albertos eigene Gesundheit. Auf Anraten des Arztes und der Kinder stimmte er deshalb zu, Idelma in die Spezialklinik zu bringen. „Das war eine schwere und sehr schmerzliche Entscheidung“, sagt Alberto nicht ohne innere Bewegtheit. Aber auch die wurde ihm erleichtert, als er kurz darauf in ein benachbartes Dorf umziehen konnte und so nur noch zehn Minuten braucht, um seine Frau täglich zu besuchen. Heute ist Alberto sicher: „Ich denke, die größte Gefahr ist, sich selbst zu vernachlässigen. Und wenn meine Kinder und die Freunde mir nicht so zugeredet hätten, wäre ich zu diesem Schritt wohl nicht in der Lage gewesen. Wer weiß, wie es mir dann heute ginge! Sie müssten sich dann vielleicht nicht nur um Idelma, sondern auch noch um mich kümmern.“
Gabi Ballweg
(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, April 2013 )
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