12. Juni 2013

Das Nichts – Schlüssel zur Schönheit

Von nst1

Schönheit und Tod. Auf den ersten Blick scheinen sich diese beiden Begriffe zu widersprechen, assoziiert man das Ende des Lebens doch eher mit Verfall und Zerstörung, während Schönheit an Glück und Lebensfreude denken lässt. Katharina Wild erklärt, wie das Nichts im Theater Schlüssel zur vollendeten Schönheit wird.

Von jeher haben sich Künstler mit der Verbindung des Schönen mit Tod und Sterben auseinandergesetzt. Ein Beispiel dafür sind die Schriften und praktischen Theaterarbeiten des Theaterreformers Edward Gordon Craig (1872 – 1966). Für Craig ist der Tod Schlüssel zur vollendeten Schönheit. Er ist Übergang ins eigentliche Leben, in ein Jenseits der Zeit und des Raumes, einen Bereich, in dem alle menschlichen Kategorien und Konstruktionen ihre Gültigkeit verlieren. Dort sind Wahrheit und Schönheit beheimatet.
Schönheit in ihrer ganzen Fülle ist dem Menschen letztlich unerreichbar. Zu sehr ist er in der diesseitigen Welt verhaftet. Deshalb hält Craig den Menschen eigentlich für ungeeignet, um im Theater Schönheit sichtbar und erfahrbar zu machen. Er ist fest davon überzeugt, dass der Mensch grundsätzlich nicht in der Lage ist, Ausdrucksformen zu finden, die der Schönheit gerecht werden könnten. Die Ursache dafür sieht er im Verlust der ursprünglichen Vollkommenheit des Menschen. Durch den Sündenfall hat der Mensch seine Unschuld verspielt und die Vertreibung aus dem Paradies verschuldet. Sein Fall in die Zeitlichkeit und Vergänglichkeit des Diesseits machen es ihm schwer, einen Zugang zu Jenseitigem und damit auch zur Schönheit zu finden.

Erlangt werden kann Schönheit nur in der Aufgabe und Überwindung dessen, was den Menschen ausmacht: seiner Persönlichkeit. So schreibt Craig: „Denn das unpersönliche im menschen ist sein bester teil, und seine persönlichkeit kommt erst an zweiter stelle. Auf den ersten blick scheint es zwar, dass das persönliche einer sache deren charakter ausmacht, ja deren identität bildet. Aber wenn man genauer darüber nachdenkt, erkennt man, dass man bei dem verzicht auf das persönliche eine kraft erhält, die sich von allen anderen unterscheidet und jeder anderen kraft überlegen ist.“ 1)
Mit dieser Auffassung stellt sich Craig gegen die gesamte westliche Schauspieltradition, die es sich doch (zum Teil bis heute) auf die Fahnen geschrieben hatte, Figuren zu verkörpern, Persönlichkeiten zu erschaffen. Craig dagegen kommt es gerade nicht darauf an, sich in eine Rolle einzufühlen, einen Charakter darzustellen. Für ihn müssen Schauspieler Medien sein, völlig leer von sich selbst, zugleich Kanal und vollkommen weiße Projektionsfläche für die Schönheit des Jenseits.

Diese radikale Sichtweise, die den kreativen Spielraum des Schauspielers stark zu beschneiden scheint, entpuppt sich bei Craig jedoch als einmalige Chance. Indem es den Schauspielern gerade nicht mehr um sich selbst geht, können sie Raum für etwas schaffen, das die Möglichkeiten ihrer eigenen Persönlichkeit bei Weitem übersteigt. Um zu solch einer Haltung zu gelangen, führt Craig Marionetten als  Orientierungshilfe an. Sie sind frei von persönlichen Einstellungen, Haltungen und Gefühlen, und sie zeichnen sich durch Passivität und Gehorsam aus. Mit Blick auf die Marionetten wird es möglich, zu einer neuen Spiel- und Bewegungsweise zu finden, die nicht mehr individuellen Körperausdruck zum Ziel hat. Vielmehr soll sie Zeugnis von der vollkommenen Schönheit des Jenseits geben.
Die Vorzüge der Marionetten sind in Craigs Vision der Über-Marionette noch vervollkommnet. Sie ist eine ideale Figur, die dem Menschen den Weg hin zur vollendeten Schönheit weisen kann. Sie ist in der Lage, die Furcht vor Schmerzlichem und Schrecklichem zu überwinden und diese in Schönes umzuwandeln. So ist es beispielsweise möglich, Leid darzustellen, ohne dass Trauer oder Schmerz Gesicht und Körper entstellen. Was immer es auszudrücken gilt, sei es Freude oder Traurigkeit, Sanftheit oder Grausamkeit, Begeisterung oder Ekel, Glück oder Verzweiflung, nie manifestieren sich Empfindungen unmittelbar und unwillkürlich in Körpergesten. Vielmehr müssen sie zuvor umgewandelt werden.

Dies erfordert bisweilen übermenschliche Kräfte. Die Über-Marionette kann diese Kraft aufbringen, weil sie eng mit einer göttlichen Macht verbunden ist, die sie hält und führt. Nur aufgrund dieser göttlichen Führung ist sie in der Lage, Gefühle und Leidenschaften zu bezwingen und im Schmerzlichen Schönes aufscheinen zu lassen.
Schmerz und Leid sind für Craig aber immer nur Übergangszustände. Dennoch legt seine  Bevorzugung des Todes nahe, dass sie notwendig sind, um zur wahren Schönheit zu gelangen. Nicht zufällig spricht er in seiner Vision von der Rückkehr der Schönheit ins Theater von der Auferstehung: „Möge die bedeutung des wortes schönheit eines tages im theater wieder ganz erfasst werden; dann dürfen wir sagen, der auferstehungstag des theaters ist nahe.“ 2)

Craigs Plädoyer für Tod und Sterben als Voraussetzung einer Auferstehung der Kunst will und darf allerdings kein Freibrief für eine Idealisierung und Sublimierung von Schmerz und Leid sein. Schließlich ist es eine wichtige Aufgabe von Kunst, die Augen für Unrecht und Missstände zu öffnen und Veränderung anzustoßen. Sie kann aber auch aufzeigen, dass aus Erfahrungen der Vernichtung und Verzweiflung überraschend Neues, Hoffnungsvolles, Beglückendes, mit einem Wort: Schönes entstehen kann. Der Dichter Stéphane Mallarmé hat dies treffend zusammengefasst: „Nachdem ich das Nichts gefunden hatte, habe ich das Schöne gefunden.“3)
Katharina Wild

1) Craig, Edward Gordon: über die kunst des theaters, Berlin 1969, S. 47
2) S. 40
3) Stéphane Mallarmé: Correspondance [Bd. 1] 1862 – 1871, hrsg. v. Henri Mondor, Paris 1959, S. 220, übers. v. Katharina Wild

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juni 2013)
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