25. November 2013

Einen wertschätzenden Blick behalten

Von nst1

Die Ärztin Michaela Braunias arbeitet in der Akut-Psychiatrie. Dabei ist sie mit Menschen konfrontiert, die sich und andere gefährden. Wie belastend ist der Job? Kann man nach dem Dienst einfach die Tür hinter sich schließen?

Sie hat eine lange Nacht hinter sich, 22 Stunden am Stück; von gestern dreizehn bis heute elf Uhr hatte Michaela Braunias Dienst in der Akutpsychiatrie. Es ging wieder einmal vom Selbstmordversuch bis zur unberechenbaren Psychose. „Nach einem ereignisreichen Nachtdienst ist man in einer Art Schlafentzugs-Euphorie und sollte tunlichst nicht gleich shoppen gehen.“ Diesen Rat ihres Oberarztes kann die 34-Jährige nur unterstreichen und erzählt dann einfach von ihrem Rund-um-die-Uhr-Schichtdienst in der Außenstation Rheine der Klinik Lengerich 1): Mit 60 Betten ist die Klinik meist überbelegt; insgesamt neun Ärzte, drei Psychologen und das Pflegeteam sind in die Therapie einbezogen. Erste Notaufnahme war diesmal eine verwirrte Person aus einem Altenheim. Dann kam ein Alkoholiker, der mit 2,7 Promille um 23 Uhr nach dem Hinweis eines Passanten vom Rettungsdienst im Park eingesammelt wurde. 43 Jahre alt, hat er zuhause drei Kinder. Die Nachbarn hatten das Jugendamt gerufen; er fühlte sich zu Unrecht beschuldigt und griff wieder zur Flasche. Nachdem die ganze Aufnahmeprozedur erledigt war, wollte er wieder entlassen werden. „Da er weder selbst- noch fremdgefährdend war, musste ich ihn gegen ärztlichen Rat gehen lassen.“ Alle Kollegen waren sich jedoch einig: Diesen Klienten sehen sie ganz bald wieder.
Dann drei nächtliche Anrufe von einem Ehemann: Seine Frau drehe durch, zittere am ganzen Körper, habe Wahnvorstellungen; das vierjährige Kind nehme mittlerweile Schaden, weil es ihr schon länger nicht gut gehe. Michaela Braunias versucht es mit verschiedenen Angeboten.

„Bei solchen nächtlichen Gesprächen geht es darum zuzuhören, die drohende Gefahr abzuschätzen und entsprechende Hilfestellung anzubieten: umgehende Klinikaufnahme, Polizei oder Notarzt informieren oder einen zeitnahen Ambulanztermin vorschlagen.“

Oft müsse man aber auch einfach erst einmal Zeit gewinnen für eine Deeskalation.
Spät nachts kommt das Paar in die Klinik und bietet ein völlig anderes Bild: Sie sind seit neun Jahren verheiratet; die Frau ist verzweifelt, weil ihr Mann sie seit acht Jahren betrüge, wie sie erst vor Kurzem durch diverse SMS auf seinem Handy entdeckt habe; jetzt hat die gebürtige Kurdin Suizidgedanken. „Das muss man sehr ernst nehmen, aber auch versuchen, möglichst bald die ganze Situation des Patienten in den Blick zu bekommen.“
Sie wollte schon immer etwas machen, das intensiv mit Menschen zu tun hat, erzählt die gebürtige Österreicherin aus dem salzburgischen Oberndorf. Während in anderen ärztlichen Bereichen wenig Zeit bleibt für das vertiefte Patientengespräch, ist es in der Psychiatrie Dreh- und Angelpunkt zum Aufbau einer therapeutischen Beziehung. Dabei hilft Michaela Braunias besonders die Spiritualität der Fokolar-Bewegung. Als Kind hatte sie diese Lebenshaltung vorbehaltlos in sich aufgesogen. Doch dann erlebte sie selbst harte Jahre, in denen von ihrer bisherigen Gewissheit nichts mehr übrig geblieben war und sie selbst physisch und psychisch an ihre Grenzen geriet. „Diese Erfahrung hilft mir heute, in der Patientenbeziehung auf Augenhöhe zu bleiben“, beschreibt die Ärztin.

„Im Andern, gleich wie er mir begegnet, das – vielleicht sehr entstellte – Antlitz Jesu suchen, ihn ernst nehmen, ihn als Bruder oder Schwester sehen und sein gesundes Potenzial fördern, das ist seit meiner Kindheit in mir drin und bei vielen Begegnungen in der Klinik eine große Hilfe“, erzählt Michaela Braunias weiter. Und es gilt nicht nur, wenn gegenüber einem total schwierigen Patienten durchaus auch mal Abneigung in ihr hochkommt: „Nie darf der wertschätzende Blick auf den Anderen verloren gehen.“

Trotzdem: Auch nach mehreren Berufsjahren gehen viele Leidensgeschichten der Ärztin noch sehr unter die Haut.

“Die Bedürftigkeit der Kinder ist besonders schwer zu ertragen, wenn man sieht, wie krank die Eltern sind, die wir behandeln.“ Vorgestern musste sie einen Achtzehnjährigen aufnehmen, sehr kindlich, lernbehindert; der Vater hatte Suizid begangen, die Mutter will keinen Kontakt. So etwas fällt ihr schwer auszuhalten: Wie kann Gott das zulassen? Trotzdem versucht sie dann, nicht in der Betroffenheit zu verharren, sondern zu verstehen: Welches Bedürfnis hat er gerade? Was braucht er jetzt am nötigsten? In dem Fall war geduldiges, mütterliches Zuhören gefragt.
„Wenn ich viele Nachtdienste habe, bleibt mir leider oft nur wenig Zeit für die intensive Arbeit mit meinen Patienten auf Station“, bedauert die in Innsbruck promovierte Ärztin. Zwar sind ihr Patienten persönlich zugeordnet, doch: „Ich hab‘ auch immer mein Team im Rücken“. Eine wichtige Aufgabe sieht die junge Frau auch gegenüber ihren Kollegen, den Ärzten und dem Pflegepersonal: „Wir müssen uns alle hundertprozentig aufeinander verlassen können; deshalb versuche ich auch den anderen immer wieder den Rücken zu stärken. Und diese Sicherheit kommt auch zurück.“

Wegen des Ärztemangels kommen immer mehr Arztkollegen aus ganz Europa. Doch gerade in der Psychiatrie spielt Sprache eine entscheidende Rolle. Da sind Feinfühligkeit und Vermittlungstalent gefragt, um einem Kollegen gelegentlich auch dezent unter die Arme zu greifen. Wenn es im größeren Team einmal knirscht, sucht sie bewusst mit allen, ob Pfleger oder Oberarzt, die Kommunikation immer wieder auf Augenhöhe zu bringen: „Das ist die Grundvoraussetzung für jede Verständigung, sonst gäbe es schnell Befehlshierarchien wie man sie kennt, die aber niemandem gerecht werden, schon gar nicht den Patienten.“
So bleibt sie im Dauertraining… „Ich gehe gern zur Arbeit!“, strahlt Michaela Braunias durch alle Müdigkeit hindurch. Ihre bald zweijährige Tochter Annabea ist das beste Entspannungsmittel, vom Stress des Nachtdienstes runterzukommen. Die Kleine, die teils vom Papa, teils in der Kita (Kindertagesstätte) betreut wird, verlangt jetzt ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. „Mit ihr erlebe ich, was eine ursprüngliche, gesunde Beziehung ist: das größte Glück für beide.“ Und so lebt die Psychiaterin heute nur noch für Kind und Familie! Sie weiß, das ist die beste Kraftquelle für den kommenden Tag in der Klinik.
Dietlinde Assmus

1) Die Klinik in der Nähe von Münster befindet sich in Trägerschaft des LWL-Psychiatrie-Verbundes Westfalen des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL).

Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2013)
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