26. November 2013

Spannungsbögen

Von nst1

Es fasziniert mich immer wieder, dass sich in Natur, Physik, Biologie unzählige Bilder finden, die sich gut auf unser Leben übertragen lassen: wie etwa jetzt im Herbst, wenn die Blätter von den Bäumen fallen (müssen!), damit im Frühjahr Neues aufkeimen kann. Solche Bilder helfen mir häufig; dieses etwa, wenn es ans Entrümpeln geht, wenn Dinge (äußerlich und innerlich) aussortiert werden müssen.

Oft scheint die Natur geradezu auf Gegensätze angewiesen zu sein: Damit man das Licht sieht, braucht es das Dunkel. Gegen die Kälte braucht es Wärme. Damit Strom fließt, zwei Pole. Aber es nützt nichts, wenn die einfach nur nebeneinander stehen, sie müssen in Verbindung gebracht werden. Sonst tut sich gar nichts. Das geht manchmal ganz einfach: eine kleine Verbindung, der Kreis wird geschlossen und schon fließt der Strom: Andere Male braucht es großen Aufwand, um die Verbindung zwischen den Polen zu schaffen, das bestehende Spannungsverhältnis zu nutzen.

Auch dieses Bild hat natürlich einen Reiz, aber im Leben tue ich mich mit den Gegensätzen und Gegenpolen schwer. Lieber wäre es mir, wenn alles harmonisch wäre, die Dinge glatt liefen, Reibungen ausblieben. Und wenn sie schon nicht zu vermeiden sind, dann soll sich doch alles möglichst schnell wieder in Wohlgefallen auflösen.

Bei dieser Nummer fallen mir zunächst zwei Gegensatzpaare ins Auge: Zwischen Geburt und Tod zeigt die Ausstellung, die Annemarie Baumgarten in der Nähe von Wien besucht hat, einen großen Spannungsbogen auf: das Leben – und zwar in allen Facetten. Und: Mit ihren Laternen bringen die „Lichterkinder“  Licht in die dunkle Jahreszeit; mit ihrem Ideenreichtum überbrücken sie – zumindest ein wenig – den Gegensatz von reich und arm.

Nicht ganz so leicht tue ich mich mit den Engeln: Im Spannungsverhältnis von Geist und Körper sind sie für mich schwer zu fassen; etwas „Beflügelndes“ spüre ich in den Texten von Cornelia Grzywa aber doch.

Einmal für die Gegenpole sensibilisiert, habe ich schnell noch einmal geblättert: Auch im Leben von Aldo Stedile  blitzen Spannungsverhältnisse auf, etwa im Loslassen (der Kunst) und dem Freisein (für Gott). Genauso in der Erfahrung der jungen Ärztin und Mutter Michaela Braunias,  die sich im Alltag zwischen Familie und Arbeitswelt bewegt. Und selbst beim Gespräch über Rituale  muss ich nicht lang suchen: Der Wunsch nach Entlastung und Sicherheit steht dem nach Freiheit und Spontaneität gegenüber.

Die Gegensätze und den Spannungsbogen zwischen ihnen entdecken wird dann fast zum Spiel, das man auch im Leben spielen kann. Dann kommt etwas zum Fließen. Und das gelingt besser, wenn man nicht nur von außen drauf schaut. Dafür muss man sich hineinbegeben, hinhören, anschauen, nachspüren – und manchmal auch einfach aushalten, die Spannung, den Gegensatz, die Disharmonie.
Das alles mache ich mir nicht zum ersten Mal bewusst. Ob ich es je ganz begreifen und mit einer gewissen Leichtigkeit umsetzen werde?

Ihre

Gabi Ballweg

Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2013)
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