8. April 2014

Kinderherzen und Mäusezähne

Von nst1

Die Zahnärztin Elisabeth Danner aus Graz setzt bei der Behandlung von Kindern vor allem auf die Beziehungen – und kann deshalb nicht nur schöne Zähne vorweisen.

„Wie oft muss ich noch schlafen, bis ich wieder zum Zahnarzt darf?“ Von einem solchen Lob aus Kindermund träumen sicher viele Zahnärzte. Auch für Elisabeth Danner ist es nicht alltäglich. Kinderherzen hat die auf Zahnheilkunde spezialisierte Ärztin in Graz aber viele erobert. Im Ambulatorium der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse behandelt sie vor allem Kinder. Und das so erfolgreich, dass man sie inzwischen auch zu Vorlesungen an die Uniklinik, zu Beiträgen bei Fachkongressen und in Fachzeitschriften einlädt. Ihr Geheimnis? Der Wunsch, echte, authentische Beziehungen zu den Kindern und ihren Eltern aufzubauen – und: eine Zahnputzmaus.

Als Elisabeth Danner vor 15 Jahren in Graz anfing, wollte sie mit ihrer kieferchirurgischen Ausbildung vor allem operieren. Dass „Frau Doktor“ inzwischen bei 20 Patienten pro Nachmittag vor allem Kinder behandelt, hat sie selbst am allerwenigsten geplant. Aber in der multikulturellen Stadt Graz sprechen viele Bürger mit Migrationshintergrund oft schlecht Deutsch, schämen sich für die schlechten Zähne der Kinder oder haben nicht das Geld für größere Behandlungen. „Wenn’s weh tut oder Kindergärtnerinnen und Schulzahnärzte Probleme feststellen, kommen diese Familien häufig zu uns“, erklärt Elisabeth Danner. Sie hat erlebt, dass Kinder wieder weggeschickt werden, weil sie den Mund nicht aufmachen und große Familien mit wenig Deutschkenntnissen im Praxisalltag eine mühsame Herausforderung sind. Die Not ließ die Ärztin nicht unberührt. „Manche hatten schon eine ganze Odyssee hinter sich“, unterstreicht sie.

Jeder, der kommt, soll sich angenommen fühlen! Wann immer es die Situation erlaubt, empfängt Elisabeth Danner neue Kinder deshalb persönlich im Wartezimmer. Häufig sind sie verängstigt und klammern sich an ihre Mütter. Bei Kindern bis fünf Jahren hat sich da ein kleines Begrüßungsritual bewährt: Die Zahnärztin lässt die Begleitperson nach der Begrüßung sofort auf einem Stuhl Platz nehmen und bittet sie, die Kinder auf den Schoß zu nehmen. „Ich selbst beachte sie vorerst gar nicht und rufe nach der Zahnputzmaus.“ Je lauter ein Kind weint, umso ausdrucksvoller wird das Rollenspiel der Ärztin: Weil sie Besuch haben, soll die Maus nun endlich aufstehen. Ob sie sich denn schon die Zähne geputzt hat? Weil das nicht der Fall ist, beginnt die Ärztin mit dem Putzen. Dabei zählt sie ganz feierlich die beiden Mäusezähne. Außerdem begutachtet sie die Zähne von allen Seiten mit dem zahnärztlichen Spiegel. „Dieses Spiel fasziniert fast alle Kinder so sehr, dass sie die Mama loslassen und gebannt der Maus folgen. Oft darf ich dann schon die Zähne des Kindes zählen“, erklärt die Ärztin. Wenn das Kind noch nicht so weit ist, zählt sie erst seine Finger und massiert dabei beruhigend Grund- und Mittelgelenke.

„Wenn ich die Zähne zählen darf, ist viel erreicht!“, freut sie sich. „Dabei versuche ich, dem Kind zu vermitteln, dass es mir wichtig ist und die Zähne Nebensache sind.“ Während sie feierlich zählt, schaut die Ärztin dem Kind immer wieder in die Augen, lächelt ihm zu und nickt mit dem Kopf. Nebenher untersucht sie mit Lampe und Spiegel und diktiert der Assistentin sofort die Diagnose jedes Zahnes. Am Ende hat sie einen klaren Behandlungsplan; „es könnte ja sein, dass das Kind später den Mund nicht mehr aufmacht.“

98 Prozent der Kinder kann die Zahnärztin mit ihrer Maus untersuchen.

Weil Kinder sich an die erste Bezugsperson binden, delegiert sie die Untersuchungen nicht an die Assistentinnen. „Währenddessen kriege ich vieles mit: Welche Sprache sprechen  die Eltern? In welcher Tonlage reden sie mit dem Kind? Versteht mich das Kind?“ Die meisten Patienten wären mit Fragebögen, wie sie normalerweise in Praxen verteilt werden, überfordert. Zu lustigen Szenen kommt es, wenn die Ärztin Wörter in der Muttersprache der Kinder aufgreift. „Mein Team kann ‚Mund aufmachen’ inzwischen in vielen Sprachen.“ Das, eine Zahnputzbroschüre in Türkisch und Merkblätter in zehn weiteren Sprachen sind für sie eine Geste der Wertschätzung für die Menschen verschiedener Kulturen, die ein neues Zuhause suchen oder aufgrund eines Asylantenstatus auf „Durchreise“ sind.
Oft trifft Elisabeth Danner auf Menschen, die noch einen Kulturschock haben, und auf Männer, die aufgrund ihrer Religion einer Frau nicht die Hand geben. Im Terminkalender ist der muslimische Fastenmonat Ramadan vermerkt. Das hilft bei der Terminvergabe oder wenn Eltern an heißen Sommertagen ihre Kinder mit Schmerzen vorstellen und dabei an die eigenen Grenzen stoßen, weil sie schon den ganzen Tag gefastet haben.

Obwohl sich zwei Behandlungsstühle im Raum befinden, das Telefon unbarmherzig läutet und Patienten an die Tür klopfen, hat das Team von Elisabeth Danner gelernt, Ruhe zu bewahren. „Kinder müssen spüren, dass sie in unseren Händen sicher und für uns der wichtigste Mensch der Welt sind, unabhängig davon, was rundherum passiert“, betont sie entschieden. Trotz vieler Erfahrungen bleibt auch nach 15 Jahren „mit Kindern jeden Tag alles neu“! So versucht die Ärztin, sich vor jeder Familie ganz „leer“ zu machen und nichts von einem Kind auf das andere zu übertragen: „Das entspricht der Einzigartigkeit jeden Kindes, jeder Familie.“
Kinder lieben es, ihren Namen zu hören, weiß die Ärztin. Viele Kinder mit Migrationshintergrund haben aber schwer auszusprechende Namen. „So üben wir bei der Erstvorstellung die Aussprache und vermerken uns in der Karteikarte die Lautschrift.“ Genauso wie deren schöne Bedeutungen und sonstige Besonderheiten, die helfen, jedes Kind persönlich anzusprechen. In diesem Zusammenhang erinnert Elisabeth Danner an die in allen Kulturen der Welt verbreitete sogenannte goldene Regel: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“

Als angestellte Ärztin stieß das Engagement von Elisabeth Danner bei ihren Vorgesetzten anfangs nicht nur auf Begeisterung. Nicht selten bekam sie zu hören, dass sich ihr Aufwand mit den Kindern nicht rechne. Der Druck war groß. Von einigen Kollegen bekam sie zwar Rückenstärkung, trotzdem wuchs die Sorge, dass man nicht mit ihr zufrieden sei. Um die Arbeit einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren und Kollegen ins Boot zu holen, „kam mir die Idee, einen Vortrag beim Zahnärzte-Kongress anzumelden. Das war waghalsig, denn ich hatte keine Ahnung, wie das geht“, erinnert sie sich an ihre „Verzweiflungstat“. Der Vortrag wurde angenommen – sie hielt ihn mit zitternden Knien. Das positive Feedback tat gut. Die Zahnärztin fing an, Eltern zu Vorträgen über Zahnhygiene einzuladen. Nach und nach vernetzte sie – gemeinsam mit den Schulzahnärzten der Stadt – Professoren der Uniklinik, den Verein Styria Vitalis und die Gebietskrankenkasse beim regelmäßigen „Kinder-Jour-Fix“ – mit dem Ergebnis, dass die Notwendigkeit der Narkosesanierungen bei Milchzähnen zurückging. Ein Professor lud sie zu einer Gastvorlesung ein, die sie inzwischen jedes Semester hält: „In unserer Ausbildung hat uns keiner auf die Behandlung von Kindern vorbereitet und warum sollte die nächste Generation dieselben Fehler machen wie wir?“ Bei der österreichischen Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde wirkt sie bei Fortbildungen für Assistentinnen mit.

Wenn sie ihre Praxiserfahrungen durch wissenschaftliche Erkenntnisse bestätigt sieht, baut sie das auf.

Wie etwa, als sie hörte, dass Kinder im Alter bis zu sechs Jahren lernen, mit Schmerzen umzugehen. Diese als Resilienz bezeichnete Fähigkeit hat sie oft erlebt: Bei den Behandlungen will sie so wenig Medizin wie möglich einsetzen. Von Fall zu Fall versucht sie abzuschätzen, was „wir gemeinsam schaffen können.“ Ganz wichtig ist ihr dabei, die Eltern einzubeziehen: „Es kann sein, dass Ihr Kind jetzt mal kurz weinen muss“, erklärt sie ihnen dann. Und weil Mütter bis zum Alter von vier Jahren ihre Emotionen auf die Kinder übertragen, liegt ihr daran, deren Vertrauen zu gewinnen. „Sie müssen spüren, es ist jetzt ‚unser Kind’ und es mir übergeben.“

Beziehung bis zum Schluss! Das gilt auch nach der Behandlung. Dann dürfen sich die Kinder etwas aus einem großen Geschenkekoffer aussuchen. „Oft bleiben sie dann noch einige Minuten, suchen und kramen. Ich merke, wie es da noch in ihnen arbeitet.“ Nebenher macht das Team weiter, redet mit den Eltern oder vergibt den nächsten Termin. „Nachdem wir Schwieriges miteinander durchgestanden haben, freuen wir uns dann noch miteinander, wenn die Kinder etwas Schönes gefunden haben.“
Wenn es um die Beziehung geht, scheint die Fantasie von Elisabeth Danner keine Grenzen zu kennen: „Ein Kind hat mich vor Kurzem überhaupt nicht verstanden. Da hab ich es mit Singen probiert. Da stimmte der ukrainische Vater plötzlich eine zweite Stimme an.“ Überraschungen wie diese begeistern Elisabeth Danner immer wieder aufs Neue. Denn: „Wenn um 17 Uhr noch ein Kind kommt, muss man schon den inneren Schweinehund überwinden, um ganz neu für es da zu sein.“ Aber es entschädigt sie, wenn sie von einem Mädchen, das zugeschaut hat, wie der kleine Bruder behandelt wurde, einen Brief bekommt: „Du bist die beste und liebste Zahnärztin der Welt!“
Gabi Ballweg

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, April 2014)
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