15. April 2014

Kooperation statt Konkurrenz

Von nst1

Raubbau an der Natur und Müllberge, Überarbeitung und Arbeitslosigkeit, Finanzkrise und Auseinanderdriften von Arm und Reich: Anzeichen, dass in unserer globalen Marktordnung etwas aus dem Ruder läuft. Der Ruf nach einer menschlicheren, nachhaltigen Wirtschaftsform wird lauter. Die noch junge „Gemeinwohl-Ökonomie“ versucht, Antworten zu geben, und findet wachsendes Echo.

„Was ist das Ziel des Wirtschaftens für einen Betrieb?“ Christian Felber, Vordenker der Initiative Gemeinwohl-Ökonomie, fragt das, wenn er zu Vorträgen in eine Schule eingeladen wird. „Geld vermehren, Gewinn machen, Profitmaximierung“, bekommt er dann zu hören. Darauf seine Nachfrage: „Wer sagt das?“ – „Haben wir so gelernt, ist so!“

300 Zuhörer hat Felber im Bürgerhaus des 6 000-Einwohner-Ortes Haag östlich von München. Er wundert sich, dass die Regierungen der Europäischen Union nach der Finanzkrise 2007 über eine Billion Euro aufwenden konnten, um das Bankensystem zu stabilisieren, aber nötige Milliarden für Bildung, Gesundheit, Energiewende, internationale Solidarität und Renten offensichtlich fehlen.
Bei der Veranstaltung stellt Felber die Grundideen der Gemeinwohl-Ökonomie vor. Nach einer Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung seien 80 bis 90 Prozent der Deutschen und der Österreicher mit der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung unzufrieden. Weil sie nicht mehr mit ihren Werten und Bedürfnissen übereinstimmt.

„Die Stiftung hat weiter gefragt, in welche Richtung soll es gehen? Ein Teil sagt: Zurück zur sozialen Marktwirtschaft!“ Andere plädierten für eine ökologisch-soziale oder gar „post-wachsende“ Marktwirtschaft, die kein Wirtschaftswachstum mehr braucht und Ressourcen schont. Viele Bürger meinen, es sei unmenschlich, dass ein Verdrängen und Vernichten des Konkurrenten belohnt wird. Felber will, dass der Mensch und seine Würde wieder in den Mittelpunkt des Wirtschaftens rückt, wie es in den Verfassungen vieler Staaten grundgelegt ist. „Aber der Appell allein reicht nicht. Die Menschenwürde und ihre Achtung müssen messbar werden!“

Rund ein Duzend Unternehmer haben die Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung im Oktober 2010 mit Christian Felber in Wien gegründet. Sie litten darunter, dass sie weniger Erfolg hatten, wenn sie auf gute Beziehungen setzten. Dabei würden sie gern mit einer rücksichtsvollen, sozialen, nachhaltigen Art des Wirtschaftens auf dem Markt bestehen können. Felber sieht die Ursache dieses Werte-Dilemmas in den „beiden System-Spielregeln der derzeitigen Wirtschaftsordnung, dem Gewinnstreben und der Konkurrenz.“
In der Spielordnung des Wettbewerbs seien menschliche Leistung und Angst Hauptantriebsfaktoren, so Felber. Stress, Burn-out, körperliche und seelische Erkrankungen seien die Folge. Dabei sei wissenschaftlich erwiesen, dass das Gelingen von Beziehungen Menschen viel stärker motiviert und einer der verlässlichsten Faktoren für menschliches Glück ist.
Empirische Studien hätten ergeben, dass Kooperation effizienter als Wettbewerb ist. Zudem sind bei Zusammenarbeit gute Beziehungen wahrscheinlicher als unter Konkurrenzbedingungen. Felber schlägt daher vor, „dass wir Gewinnstreben als oberstes Ziel ablösen durch Gemeinwohlstreben. Und als Weg die Belohnung von Kooperation wählen anstelle der Belohnung von Konkurrenz.“

Der Erfolg einer Volkswirtschaft wird am Bruttosozialprodukt, der Erfolg eines Unternehmens am Bilanzgewinn abgelesen. Beides wird in Geldsummen ausgewiesen. Ein Systemfehler, meint Felber, denn Ziel des Wirtschaftens sei den  volkswirtschaftlichen Lehrbüchern zufolge doch die Befriedigung der Bedürfnisse von Menschen, das Wohl aller; die Ökonomen aber würden die Maximierung der Mittel mit der Erreichung des Ziels verwechseln.

„Wenn wir den Erfolg einer Volkswirtschaft messen wollen, müssen wir so etwas wie ein ‚Gemeinwohlprodukt’ entwickeln.“ Dementsprechend könne man bei einem Unternehmen seinen Beitrag dazu erfassen, in einer Gemeinwohlbilanz.
Der Staat Bhutan versucht, das Bruttonationalglück zu ermitteln, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD vergleicht den Better Life-Index von Staaten. Felber empfiehlt Kommunen, die sich für Gemeinwohl-Ökonomie interessieren, unter ihren Bürgern einen eigenen kommunalen Index für Lebensqualität zu ermitteln. Er könnte aus 20 bis 25 Punkten komponiert werden, darunter Fragen zu Gesundheit, Bildung, sozialem Zusammenhalt, ökologischer Stabilität, Mitbestimmungsmöglichkeiten, Geschlechtergerechtigkeit, Arbeitsplatzsituation. Aus Hunderten kommunaler Gemeinwohlindizes ließe sich das Gemeinwohlprodukt des Staates entwickeln.

Die Gemeinwohlbilanz bildet ab, wie ein Unternehmen in Bezug auf Menschenwürde, Solidarität, Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Demokratie mit seinen Lieferanten, Mitarbeitern, Kunden umgeht:  Je besser ein Unternehmer die Werte umsetzt, desto mehr Punkte erhält er und desto stärker wird er belohnt. Die Punktzahl kann auf seinen Produkten in einer Farbskala von rot (wenig gemeinwohlorientiert) über orange, gelb, hellgrün bis kräftig grün (stark gemeinwohlorientiert) dargestellt werden. Der Konsument kann so beim Einkauf auf einen Blick sehen, wie stark bei der Herstellung ethische Werte eingehalten wurden. Gemeinwohlfreundliche Herstellungsabläufe könnten belohnt werden, indem der Betrieb einen geringen oder gar keinen Mehrwertsteuersatz zahlen muss. Je schädlicher er produziert, desto höher die Steuer.

Während eine Kennzeichnung der Produkte mit Farbpunkten und die Belohnung des Unternehmens über variable Steuern noch Zukunftsmusik sind, unterstützen bereits über 1 500 Firmen die Gemeinwohl-Bewegung; über 140 haben eine Gemeinwohlbilanz erstellt. Die Bio-Bäckerei Märkisches Landbrot in Berlin ist eine davon. Mindestens fünfzehn Tage habe es gedauert, den Betrieb nach den Gemeinwohlkriterien zu durchleuchten, erzählt Christoph Deinert, einer der beiden Geschäftsführer. Weil das bei nur 49 Mitarbeitern ein großer Aufwand ist, erarbeitet er eine solche Bilanz nur alle zwei bis drei Jahre. Aber es lohnt sich, ist Deinert überzeugt: „Es gibt andere Instrumente für Firmen, die auf Nachhaltigkeit oder Ökologie setzen, aber die meisten sind eher Show – viele Worte, wenig Aussagen. Wir fanden an der Gemeinwohl-Ökonomie bestechend, dass sie bis ins kleinste Detail geht und nachher überprüfbare Zahlen auf dem Papier stehen.“
Beispielsweise werde gefragt, wie viele Schulungen derjenige Mitarbeiter im Betrieb absolviert hat, der am wenigsten Weiterbildungschancen hatte. „Die Betrachtung beginnt beim letzten und läuft nicht wie üblich von oben nach unten“, erläutert Deinert. Ihm gefällt, dass mit der Gemeinwohlbilanz die Nachhaltigkeit eines Betriebs branchenübergreifend vergleichbar wird. „Da kommt ein Wert heraus, zwischen 1 und 1 000.“ Märkisches Landbrot lag mit 652 Punkten schon ganz gut, wies aber Defizite im Bereich Demokratie und Mitbestimmung auf. „Darum macht man das ja: Man will wissen, wo man steht und wo die Lücken sind. Wir wollen daraufhin jetzt die Holakratie austesten, eine neue Praxis des Strukturierens, Führens und Leitens, ein Mittelding zwischen Herrschaft von oben und Demokratie.“

Die beiden Geschäftsführer Joachim Weckmann und Christoph Deinert versucht, die Idee der Gemeinwohl-Ökonomie in anderen Verbänden zu etablieren, die auf regionale und ökologisch hergestellte Produkte setzen.

In Haag bezieht Felber seine Zuhörer ein: Neun Freiwillige kommen nach vorn. Sie sollen in einem demokratischen Prozess darüber abstimmen, um ein Wievielfaches das Einkommen des Höchstverdienenden in einem Betrieb von dem geringsten Lohn abweichen darf. „Zunächst bitte ich um Vorschläge.“ Das 200-fache, 100-, 50-, 20-, 10-, Fünf-, Drei-, sogar das Einfache werden genannt. „Wir zeigen durch Handheben den Widerstand zu den einzelnen Faktoren. Und es gewinnt der Vorschlag, der den geringsten Widerstand erfährt, also in der Wahlbevölkerung den geringsten Schmerz auslöst.“ Schließlich sind bei einer 10-fachen Einkommensungleichheit die wenigsten Hände oben. „Das entspricht dem Durchschnitt. Bei meinen Vorträgen von Finnland bis Argentinien siegt in 95 Prozent der Fälle der Faktor 10!“ Das Experiment sollte veranschaulichen, dass die Gemeinwohl-Ökonomie stark auf Demokratie setzt, ja eine Reform für nötig hält: Die repräsentative Demokratie soll durch direkte und partizipative Demokratie ergänzt werden.

Hochschulen beginnen sich für die Gemeinwohl-Ökonomie zu interessieren. Felber unterrichtet das Fach erstmals an der Wirtschaftsuniversität Wien. „An der Universität Salzburg wollen wir ebenfalls einen Studiengang etablieren, und mit den Vereinten Nationen entwickeln wir einen UNESCO-Lehrstuhl Gemeinwohl-Ökonomie. Der soll einmal in über 100 Staaten angeboten werden.“

Das Logo der Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung ist der Löwenzahnsame, der Same der „Pusteblume“: Verbreitet vom Wind, kann er auf dem härtesten Untergrund wachsen. Und wo so ein Same landet und sich festsetzt, kann eine Regionalgruppe, eine Gemeinwohlfirma, -gemeinde oder -universität entstehen.
Clemens Behr

www.gemeinwohl-oekonomie.org

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, April 2014)
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