22. Juli 2014

Braucht das Leben mehr Kick?

Von nst1

Immer mehr Menschen suchen das Risiko von Extremsportarten: Sie klettern ohne Seil auf Berge, springen aus Flugzeugen, von Häusern und Klippen oder balancieren auf Slacklines 1) zwischen Wolkenkratzern oder über Schluchten. Was sie dabei suchen, wollten wir von Robin Heck, einem Sportpsychologen aus Heidelberg, wissen.

Herr Heck, treiben Sie auch eine Extremsportart?
HECK: Gerade am Wochenende war ich mit Freunden auf einer Canyoning-Tour 2) in Österreich. Das ist keine typische Extremsportart, war aber durchaus mit einem erheblichen Adrenalinspiegel verbunden und hat riesig Spaß gemacht. Natürlich ist es mit einem gewissen Risiko behaftet, aber wahrscheinlich ist die Fahrt zur Schlucht genauso gefährlich wie der Sport selbst; vorausgesetzt, man begibt sich in kompetente Hände.

Es scheint, dass immer mehr Menschen den besonderen Kick des Risikosports suchen. Stimmt das? Wenn ja, warum?
HECK: Ja, die Zahlen bei den Risiko- und Extremsportarten steigen. Das ist darauf zurückzuführen, dass das Equipment deutlich verbessert wurde und so auch das Risiko sinkt. Außerdem sind die Zugänge durch die zahlreichen Anbieter im Internet sehr viel einfacher geworden. Die mediale Präsenz der Riskio- und Extremsportarten etwa über Youtube und andere Portale ist unglaublich hoch; dementsprechend steigt auch das Interesse daran.
Die wachsende Faszination rührt aber auch vom Risiko, das mit den Sportarten verbunden ist. Zum anderen liegt es an einer Suche nach Erfahrungen, die vom Alltag abweichen und die Möglichkeit bieten, sich selbst in extremsten Situationen zu erleben.

Ist der Alltag zu langweilig?
HECK: So würde ich das nicht ausdrücken. Eher, dass bestimmte Empfindungen im Alltag weniger auftreten. Oft fehlen direkte Rückmeldungen auf das eigene Handeln. Man macht seine Arbeit, interagiert mit verschiedenen Menschen, aber unmittelbare Rückmeldungen auf seine eigenen Fähigkeiten, die grundlegenden Emotionen finden nicht statt. Beispielsweise erlebt ein Freeclimber nicht nur seine Ängste sehr deutlich, sondern auch die Momente, in denen er sie sogar nutzen kann. Zudem bieten viele Extremsportarten eine unmittelbare Naturnähe, welche im Alltag größtenteils fehlt. Deshalb würde ich weniger von Langeweile sprechen als vielmehr von der Faszination dessen, was auf emotionaler Ebene bei der Ausübung von Extrem- und Risikosportarten erfahrbar wird.

Suchen nur Jugendliche diese Erfahrung?
HECK: Keineswegs. Auch Manager und ganze Unternehmensgruppen nehmen immer öfter an entsprechenden Angeboten teil.

Es geht also um ein Bedürfnis des Menschen und wird nicht so sehr durch den Markt angeschürt?
HECK: Es trifft sicher beides zu. Das Bedürfnis nach einer gewissen Aktivierung, nach intensiven Empfindungen besteht ganz grundlegend. Die meisten Situationen im Alltag können diesem Bedürfnis nicht genügen. Deshalb suchen diejenigen, die es in sich spüren, nach Wegen, es zu stillen. Dabei kommt es aber auch auf das Umfeld und die konkreten Bedingungen an: Wo wohne ich? Welche Möglichkeiten – auch finanzielle – habe ich? Welche Ideen kommen zu mir? Über die mediale Präsenz werden die Ideen sehr viel mehr angeregt als über das soziale Umfeld.

Ist es auch das Bedürfnis, andere zu übertrumpfen, oder muss man sich nur selbst etwas beweisen?
HECK: Sowohl als auch. Im Internet werden nicht nur die verschiedenen Möglichkeiten der Extremsportarten sichtbar. Man filmt sich dabei und zeigt das dann im Netz. So genießt man auch eine gewisse Anerkennung für den Mut, den man bewiesen hat. Das macht es für viele noch attraktiver. Der Psychologe Falko Rheinberg spricht von der sogenannten „Gladiator-Komponente“.

Gibt es weitere Beweggründe?
HECK: Das Persönlichkeitsmerkmal „Sensation Seeking“ kann hinzukommen. Es beschreibt, in welchem Aktivierungsniveau man sich selbst wohlfühlt. So gibt es Menschen, die ausreichend angeregt sind, wenn sie etwa auf der Couch sitzen und ein Spiel spielen. Und es gibt andere, die ein wesentlich höheres Aktivierungsniveau ihres psycho-physiologischen Systems brauchen, entsprechend viel Serotonin, Dopamin und auch Adrenalin ausgeschüttet wird, damit sie sich wach und „lebendig“ fühlen. Es geht hier um ein angeborenes, genetisch verankertes Merkmal. Und bei denjenigen, bei denen es stärker ausgeprägt ist, besteht eine höhere Neigung, Extremsportarten auszuüben.

Das heißt, die einen haben es und die anderen nicht?
HECK: Nicht ganz. Prinzipiell sucht jeder nach Situationen, die dem eigenen Aktivierungsniveau entsprechen. Nur ist individuell unterschiedlich, wie hoch es sein muss, damit man sich wohlfühlt. Manche brauchen weniger starke Reize, andere sehr starke Reize. Deshalb kann man keineswegs davon ausgehen, dass es nur Verrückte sind, die „free solo“ 3) den Berg hoch klettern.

Naja, als Außenstehender könnte man manchmal meinen, die seien lebensmüde.
HECK: Das mag so wirken, aber tatsächlich ist es weit davon entfernt. Menschen, die Sportarten ausüben, die mit einem gewissen Todesrisiko verbunden sind, achten im allgemeinen penibel genau auf die Umwelt- und Rahmenbedingungen, ihre Ausrüstung und ihre momentane Verfassung. Sie schätzen die Gefahren genau ab und gehen sehr überlegt und kontrolliert an die Sache.
Da geht es nicht um Lebensmüdigkeit, sondern darum, die Faktoren einzugrenzen und funktional mit der Angst umzugehen, sodass die sportliche Handlung mit höchster Konzentration ausgeführt werden kann. Man spricht auch von Selbstwirksamkeit: Wenn ich mein Können auch in schwierigen Situationen in entsprechendes Handeln umsetzen kann, erhöht sich dadurch das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten.

Welche Rolle spielt das Risiko?
HECK: Wenn man eine Tätigkeit gefunden hat, die das volle Potential der eigenen Fähigkeiten verlangt und eine Gefahrensituation hinzukommt, werden hohe Mengen an Noradrenalin, Dopamin und Adrenalin ausgeschüttet. Unter anderem werden dadurch Konzentration und Aufmerksamkeit positiv beeinflusst. So kann das sogenannte „Flow-Phänomen“ auftreten: Man vergisst die Zeit, die Konzentration baut sich wie von alleine auf, fließt sozusagen in die eigene Tätigkeit über und man hat das Gefühl, dass die Bewegung fast automatisch abläuft. Andere Gedanken haben keinen Platz mehr und der „Flow“ ist fast mit einer Art meditativem Zustand vergleichbar. Solche Zustände sind sehr verlockend und die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens ist innerhalb von Extrem- und Risikosportarten recht hoch. Menschen „im Flow“ fühlen sich glücklich, kreativ und erfüllt. Außerdem gehen sie gestärkt daraus hervor.

Kann es da nicht zu so etwas wie einer Sucht nach Gefahr kommen, dazu dass man das Risiko nicht mehr einschätzen kann?
HECK: Natürlich. Es kann immer zur Selbstüberschätzung kommen, die bei gefährlichen Aktivitäten, wie es Extremsportarten ja sind, sogar den Tod zur Folge haben können.

Was würden Sie Eltern raten, deren Kinder solche Sportarten ausüben wollen?
HECK: Dass sie das Gespräch suchen, um die Beweggründe ihres Kindes zu erfahren. Vielleicht geht es nur um die Akzeptanz oder die Anerkennung von Gleichaltrigen. Es kann aber auch eine positive Faszination dahinterstecken: Der junge Mensch fühlt sich angezogen, weil er darin Selbstverwirklichung sucht, Freude empfindet, eine Wachheit erlebt, die er sonst nicht kennt. Dann ist die Bewusstmachung das Allerwichtigste: dass er genügend darüber reflektiert und Gespräche führt, sowohl mit den Eltern wie auch mit denen, die solche Sportarten anbieten, und weiß, worauf er sich einlässt, welche Konsequenzen es nach sich ziehen kann und ob die individuellen Fertigkeiten und Fähigkeiten ausreichen, um den Sport auszuüben.

Eine letzte Frage: Welche Rolle spielt die Gemeinschafts-Komponente, also das Erleben, sich aufeinander verlassen zu können?
HECK: Das ist sicher wichtig. Aber man muss es differenziert betrachten. Nur wenige dieser Sportarten kann man überhaupt in der Gruppe ausüben. Im Umfeld der Tätigkeit jedoch spielen gruppenpsychologische Phänomene eine große Rolle. Wenn man in außergewöhnlichen Situationen die intensiven Empfindungen mit Freunden teilt, ist das natürlich umso schöner und eindrücklicher. Das schweißt zusammen. Aus diesem Grund suchen auch Unternehmen immer öfter sportliche Gruppenerlebnisse. Weil es auch die Kollegen noch einmal in einer ganz besonderen Weise zusammenschweißt.

Vielen Dank für das Gespräch.
Gabi Ballweg

Robin Heck
studierte Sportwissenschaften, Psychologie und Erziehungswissenschaften in Frankfurt und Heidelberg. Neben seiner Zusatzausbildung in „Sportpsychologie und Mentalcoaching im Leistungssport“ war er freiberuflich tätig und promoviert am Institut für Sport und Sportwissenschaft in Heidelberg über Extremsportarten.

1) „Slackline“ ist ein Schlauch- oder Gurtband, das zwischen zwei Befestigungspunkten gespannt ist und auf dem man dann beim Slacken (Slacklinen, Slacklining) ähnlich wie beim Seiltanzen balanciert.
2) Canyoning meint das Begehen einer Schlucht in den unterschiedlichsten Varianten – durch Abseilen, Abklettern, Springen, Rutschen, Schwimmen und manchmal sogar Tauchen.
3) „Free-Solo-Klettern“ bezeichnet die Begehung einer Kletterroute im Alleingang unter Verzicht auf technische Hilfs- und Sicherungsmittel

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2014)
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