11. Dezember 2014

Sterbebegleitung und Debattenkultur

Von nst1

Offener Brief an die Abgeordneten des Deutschen Bundestags 

Sehr geehrte Damen und Herren,

mich hat angenehm überrascht, dass Sie sich für das heikle Thema Sterbebegleitung Zeit genommen, aber auch, in welcher Atmosphäre und wie differenziert Sie die Debatte geführt haben. Die 48 Abgeordneten, die zu Wort gekommen sind, haben ungewohnt offen gesprochen und sich weder gescheut, Gefühle zu zeigen, noch ganz persönliche Erlebnisse mit Sterbenden einfließen zu lassen. Unterschiedliche Positionen hatten Platz; nicht immer gehen Parlamentarier mit der Haltung von Kollegen so respektvoll um!

Es ist sinnvoll, bei grundsätzlichen Fragen wie dieser den Fraktionszwang aufzuheben. So haben sich Meinungsbündnisse quer durch die Parteien gefunden. Kein Signal politischer Schwäche, sondern dafür, dass mehr Zusammenarbeit möglich ist, als es im politischen Alltag scheint. Selten hat sich Politik bei allem Ernst so menschlich gezeigt. Für mich zählt die Debatte zu den Sternstunden im Bundestag!

Damit ist noch lange nicht klar, ob Sterbehilfe umfassend verboten oder wie stark die Regulierung sein wird. Offen bleibt, ob eine gesetzliche Festlegung bis ins Letzte überhaupt gewünscht ist. Weitgehend Konsens besteht, dass das Vertrauensverhältnis Arzt-Patient nicht gefährdet werden darf. Erfreulich einig waren Sie sich, dass Palliativmedizin und –pflege ausgebaut werden müssen. Es wurde gefordert, genauso intensiv auch über die Verbesserung der Pflege zu reden.

Einen Gesetzentwurf zur Neuregelung der Sterbehilfe legt die Koalition erst kommenden Februar vor. Weitere Debatten sind dann im Frühsommer geplant. Aber es ist angemessen, sich Zeit zu lassen, schließlich geht es um die existenzielle Frage, wie der Staat das Leben und die Menschenwürde am besten schützen kann.

Bei der Bundestagsdebatte ging der Tenor in die Richtung, keine organisierte Sterbehilfe zuzulassen. In Umfragen befürworten dagegen zwei Drittel der Deutschen aktive Sterbehilfe, wenn sie unheilbar krank werden. Andererseits gestehen die Bürger ihre Unsicherheit ein, wenn sie sagen, dass sie sich nicht gut informiert fühlen. Auch die Debatte hat deutlich gemacht, dass es keine einfachen Antworten und Lösungen gibt. Sie hat Bürger und Medien aber angestoßen, sich eingehender als bisher mit dem Für und Wider, mit den Zwischentönen und Folgen des Umgangs mit Sterbenden zu beschäftigen. So führen Sie die Debatte auch stellvertretend für das Volk; die Bürger können den Ball aufgreifen, mit- und weiterdenken und ihre eigene Position überarbeiten.

Die „Orientierungsdebatte“ als neue Form parlamentarischer Meinungsbildung im Vorfeld neuer Gesetzgebungsverfahren hat sich bewährt. Gerade bei Themen, die grundsätzliche ethische und gesellschaftliche Fragen betreffen, die eine Weichenstellung für die Zukunft des Landes bedeuten, erweisen Sie damit der Gesellschaft einen wertvollen Dienst: Gerne mehr davon!

Mit freundlichen Grüßen,

Clemens Behr
Redaktion NEUE STADT

Unser offener Brief wendet sich an die 631 Abgeordneten im Deutschen Bundestag in Berlin. Die Regierungsparteien hatten sich nicht einigen können, ein Gesetzesvorhaben zur Suizidbeihilfe in den Koalitionsvertrag aufzunehmen. Angestoßen von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe kamen die Fraktionen überein, eine Gesetzesinitiative aus der Mitte des Parlaments zu starten. Eine erste Debatte am 13. November dauerte nahezu fünf Stunden.

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Dezember 2014)
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