15. Juni 2015

Was uns prägt

Von nst1

Schlüsselerlebnisse können nachhaltige Wirkung auf unsere Persönlichkeit, unser Denken und Verhalten ausüben.  Sie prägen uns wie das Umfeld, in dem wir aufgewachsen sind: Elternhaus, Freundschaften, Vereine, kirchliche Gruppen haben uns Einstellungen im religiösen, politischen und sozialen Bereich mitgegeben.

Großen Einfluss auf die Entwicklung hat auch die Schule. In der Drei-Religionen-Grundschule in Osnabrück  lernen muslimische, jüdische und christliche Kinder gemeinsam. Von klein auf ist die kulturelle und religiöse Verschiedenheit für die Schülerinnen und Schüler selbstverständlich: eine Schule der Sensibilität für Bedürfnisse, Denken und Fühlen der anderen. Anderssein ist für sie nicht etwas Fremdes, das Angst macht, sondern ganz „normal“.

Bis vor vier Jahren war ein solches Miteinander auch in Syrien normal: „Wir haben uns trotz des unterschiedlichen Glaubens immer als ein Volk gefühlt“, sagt der Libanese Pierre, der sich stark mit den Syrern identifiziert. Pierre sowie Rana erklären in diesem Heft, warum sie trotz des Krieges in Syrien bleiben.

Syrien, Irak, Nigeria sind Schauplätze unvorstellbarer Gewalt. Kämpfer vertreten extremistische Ideologien, mit denen sie auch die westliche Welt terrorisieren und die sie nicht selten religiös begründen. Was können die Religionen tun, um dem Extremismus entgegenzuwirken? Erstmals haben die Vereinten Nationen Religionsvertreter nach New York gebeten. In einer zweitägigen Debatte wollten sie ausloten, wie die Religionen ihr Friedenspotenzial besser ausspielen können.

Wir schütteln schnell über die Konfliktherde verständnislos den Kopf. Dabei haben auch bei uns grausame Kriege getobt. Vor siebzig Jahren ist der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen. Oft möchten wir lieber nicht daran erinnert werden. Aber das unbequeme Erinnern ist nötig, um nicht erneut der Fremdenfeindlichkeit und Unmenschlichkeit zu verfallen. Wer wird mahnen, wenn die Zeitzeugen aussterben?

Gedenkstätten können Fakten und Erlebnisse von damals nahebringen, sie neu aufleben lassen. Sie können Räume sein, die eine Prägung vermitteln. So wie die Drei-Religionen-Grundschule in Osnabrück. Wer mit jüdischen Mitschülern die Schulbank geteilt hat, wird wohl kaum Antisemit. Wer mit muslimischen Kindern auf dem Schulhof gespielt hat, wird kaum den Islam verteufeln. Wer Christen als Schulfreunde hat, wird kaum eine Kirche beschmieren.

Was hat uns geprägt? Wovon wollen wir uns prägen lassen? Was soll unsere Kinder und Enkel prägen? Es lohnt sich, diesen Fragen nachzugehen: für uns selbst wie für die Zukunft unserer Gesellschaft. Schließlich haben wir selbst mit unseren Worten und Taten – im Guten wir im Schlechten – Einfluss auf andere.

Gedenkstätten, Drei-Religionen-Schule und die UNO-Debatte mit den Vertretern verschiedener Religionen schaffen einen Raum des Zuhörens, Hinhörens und Austausches; Raum für eine wertvolle Erfahrung, die sich in den Beteiligten eingraben kann. Wo können wir noch solche Räume schaffen?

Ihr

Clemens Behr

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juni 2015)
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