15. September 2015

Augen auf und durch

Von nst1

Was, wenn Sie Ihren Job verlieren, jemand stirbt, der Ihnen nahesteht, oder der Arzt bei Ihnen eine schwere Krankheit feststellt? Manche Menschen zerbrechen daran, andere meistern Schicksalsschläge gut und gehen gestärkt aus ihnen hervor.
„Resilienz“ ist die psychische Widerstandsfähigkeit, die Krisen bewältigen hilft. Kann man sie trainieren? Fragen an Hugo Körbächer vom Resilienzzentrum in Lembruch bei Osnabrück.

Resilienz, was bedeutet das, Herr Körbächer?
KÖRBÄCHER: Das Wort stammt aus der Werkstoffkunde und beschreibt eine Eigenschaft bestimmter Materialien: Versucht man, sie zu verändern, zu zerbrechen, kehren sie anschließend wieder in ihre Ursprungsform zurück.
Die menschlichen Psyche hat eine vergleichbare Widerstandsfähigkeit: Personen kehren nach Krisen und schwierigen Situationen wieder in ihre Ursprungsverfassung zurück. Wenn sie aus der Krisenzeit etwas gelernt haben, gehen sie gestärkt daraus hervor oder erfahren eine innere Reife. Sie sind für künftige Probleme besser gewappnet.

Woher kommt diese Widerstandsfähigkeit?
KÖRBÄCHER: Das kann man schlecht sagen. Die größte Untersuchung dazu ist die Kauai-Studie: Von 1955 bis 1995 haben eine Soziologin und eine Psychologin auf einer hawaiianischen Insel über 700 Kinder erforscht. Sie wollten wissen, wie sie sich in schwierigen Lebensumständen entwickeln. 300 von ihnen entfalteten sich sehr gut, trotz großer Armut und widriger Bedingungen. Die hatten anscheinend – angeboren oder von den Eltern mitgegeben – einen inneren Schutz. Dabei sind die Schutzaspekte oder auch protektiven Faktoren erstmals beschrieben worden, die die Widerstandskraft ausmachen. Ein Teil ist angeboren, ein Teil hängt vom frühen Umfeld ab.

Zu den sieben Schutzfaktoren der Resilienz zählen drei Grundhaltungen. Welche sind das?
KÖRBÄCHER: 1. Optimismus: Damit ist nicht gemeint, positiv denken und alles ist schön. Sondern die Schwierigkeiten realistisch sehen und zugleich die Zuversicht behalten: Es geht vorüber und ich werde das hinkriegen. Also seine Stärken und Schwächen kennen und gezielt einsetzen.
Dann 2. Akzeptanz: Gegebenheiten, die ich nicht verändern kann, annehmen, mich nicht daran abarbeiten, sondern klar sehen, da habe ich keinen Einfluss. Stattdessen die Kraft dort einsetzen, wo ich etwas ändern kann.
Die 3. Grundhaltung ist die Lösungsorientierung: Die Probleme wahrnehmen, aber sich nicht in der Analyse verstricken, sondern an eine Lösung denken und verschiedene Wege ausprobieren.
Außerdem können wir unsere Widerstandsfähigkeit noch mit vier Handlungsoptionen erhöhen. Dazu gehört optimale Beziehungen gestalten: sich vernetzen, schauen, wer tut mir gut, welche Beziehungen kann ich selbst stiften oder stärker pflegen.
Als Weiteres seine Gedanken, Gefühle und Stimmungen steuern: sich selbst regulieren, beruhigen oder auch motivieren.
Ein ganz wichtiger Faktor ist Verantwortung übernehmen und die Opferrolle verlassen. Auch ein resilienter Mensch wird Opfer mancher Verhältnisse sein, weiß aber, wie er sich davon befreien kann.
Und das Letzte ist Zukunft gestalten: Sich an den eigenen Werten orientierte Ziele setzen und sie dann auch langfristig verfolgen.

Wie kann ich die drei Grundhaltungen stärken?
KÖRBÄCHER: Es geht oft um Bewusstmachung. Vielen Menschen sind die Möglichkeiten, die sie in sich tragen, gar nicht bewusst.
Wenn eine Veränderung auf uns zukommt, begegnen wir ihr oft mit Pessimismus oder Skepsis: Muss das sein? Das wird schwierig! Stattdessen können wir uns den Vorteil bewusst machen: Was gewinnen wir dadurch? Das wäre eine Veränderung Richtung Optimismus. Andere Denkmuster entwickeln als die, die wir gelernt haben, andere Fragen stellen, andere Sichtweisen hören. Die alten müssen nicht schlecht sein, aber wir können neue Denkweisen entwickeln und danebenstellen.
Bei Akzeptanz geht es darum, sich selbst zu mögen. Je mehr wir mit uns selbst hadern, um so schwerer tun wir uns auch, andere Menschen zu akzeptieren. Nicht alles, was sie tun, auf uns selbst beziehen.
Viele vergeuden Zeit mit langen Reden und Kämpfen gegen Gesetze und Bedingungen, die sie nicht beeinflussen können. Dabei sind sie eigentlich mit sich selbst unzufrieden. Sich zu akzeptieren ist ein vielleicht lebenslanger Prozess.

Was bedrückt die Menschen, die in Ihr Zentrum kommen?
KÖRBÄCHER: Es muss sie gar nicht unbedingt etwas bedrücken. Resilienztraining ist keine Therapie. Sie stehen an Wendepunkten ihres Lebens oder fragen sich: Wie lange will ich diesen Beruf noch ausüben, der es mir so schwer macht? Wie komme ich besser in meiner privaten Situation zurecht? Sie kommen an ihre Grenze, sind gestresst, ausgebrannt, suchen nach Antworten. Andere kommen einfach, weil das Thema sie interessiert oder sie vorbereitet sein wollen, wenn sie mal in eine schwierige Situation geraten.

Wie lassen sich die Resilienzaspekte insgesamt trainieren?
KÖRBÄCHER: Wir machen erfahrungsorientierte Übungen, sodass Menschen erleben, wie sie in bestimmten Situationen reagieren: Denke ich dann eher optimistisch? Erleben andere mich pessimistisch? Reagiere ich bei Schwierigkeit eher problemorientiert oder lösungsorientiert?
Wichtig ist die Auswertung: Wie kann ich weitermachen, was trainiere ich weiter? In einem zweitägigen Seminar kann man nicht sein Leben verändern. Aber man kann Impulse geben und erfährt ein grundlegendes Wissen über Resilienz, eingebettet in dazugehörende Theorien.

Inwiefern spielt die Erziehung dabei eine Rolle, wie stark unsere psychische Widerstandskraft ist?
KÖRBÄCHER: Werden Kinder von Erwachsenen – Eltern, Lehrern, wem auch immer – ermutigt und gestärkt, fördert das ihren Optimismus. Werden sie eher zurückgehalten, wird ihnen Verantwortung abgenommen und nichts zugetraut, kann oft nur schwer Optimismus gedeihen.
Wie ist meine Haltung dem Kind gegenüber? Akzeptiere ich es so, wie es ist, oder versuche ich dauernd, es umzuerziehen? Nehme ich es an, wenn es anders ist, als ich mir vorstelle? Kann ich das aushalten?
Letztlich hängt viel davon ab, ob wir uns selbst annehmen können, wie barmherzig wir mit uns selbst sind, ob wir uns unsere Stärken und Schwächen zugestehen.

Kann Resilienztraining auch auf Situationen vorbereiten, die stark an die Nieren gehen wie der Tod eines lieben Menschen?
KÖRBÄCHER: Das lässt sich schwer vorhersagen und ist von Person zu Person verschieden. Ich merke bei unseren Teilnehmern, dass sie schneller wieder Fuß fassen. Sie nehmen ihre Trauer wahr und lassen sie zu. Das gehört zur Selbstregulierung, denn wenn man Gefühle nicht zulässt, werden sie uns irgendwann beeinträchtigen oder krank machen. Die Teilnehmer merken, dass sie jemanden brauchen, der ihnen zur Seite steht, oder sie sich mehr um Lösungen und Optimismus bemühen sollten. Wer trainiert ist in Resilienz, wird intuitiv darauf zurückgreifen.
Menschen mit großem Durchhaltevermögen, die ihr Leben lang scheinbar immer taff und stark sind, haben oft nur ein einziges Verhaltensmuster gelernt: Augen zu und durch. Sie brechen irgendwann zusammen und dann ist es schwer, sie rauszuholen. Eine resiliente Haltung wäre: Augen auf und durch!

Beziehungen gestalten ist eine der Handlungsoptionen, die die Widerstandskraft steigern kann. Wie ist das zu verstehen?
KÖRBÄCHER: Studien belegen, dass Menschen, die in intakten und gut gepflegten Beziehungen leben, seltener krank werden, viel weniger gestresst sind, sich auch von Herzanfällen und Infekten schneller erholen. Die Hirn- und die Resilienzforschung haben gezeigt, dass Kinder in den ersten drei Lebensjahren mindestens eine vertrauenswürdige, intakte Beziehung zu einem erwachsenen Menschen – das müssen nicht zwingend die Eltern sein – erleben müssen, um beziehungsfähig zu werden. Wenn nicht, holen sie es oft später nach; zum Beispiel beim ersten Liebespartner. Sie trainieren mit ihm unbewusst Vertrauen und Beziehungsfähigkeit, aber er ist nicht unbedingt ihr Partner fürs Leben.
Beziehungen gestalten ist auch zu lernen. Wenn ich merke, dass ich misstraue oder die Beziehung mich nicht stützt, sollte ich eventuell die nötige Distanz herstellen: Das ist mit „gestalten“ gemeint. Gleich-würdige Beziehung heißt, respekt- und würdevoll miteinander umgehen. Das wäre eine stärkende, tragfähige und zufriedenstellende Beziehung.
Andere Beziehungen können sehr viel Energie ziehen. Da muss ich prüfen: Kann ich das leisten? Sind die Beziehungen in meinem Freundes- und Bekanntenkreis echt? Sich trennen und neue Freunde gewinnen, die mich inspirieren, gehört zum Leben. Auch seine Mentoren prüfen. Manche Menschen haben Lebensweisheiten im Ohr von den Großeltern oder Lehrern. Die haben ihnen Wichtiges mitgegeben. So kann jeder überlegen, für wen er selbst ein wichtiger Wegbegleiter sein will. Auch die Zugehörigkeit in einer Glaubensgemeinschaft ist oft ein stabilisierender Faktor in den Wogen des Lebens.

Vielen Dank für das Gespräch.
Clemens Behr
Hugo H. Körbächer,
geboren 1952, hat Gesundheits- und Krankenpfleger gelernt und war als Lehrer für Berufe im Gesundheitswesen tätig. 1992 rief er das Rondo-Seminarhaus am Dümmer See bei Osnabrück ins Leben, ist dessen Inhaber und Pädagogischer Leiter. 2005 gründete er dort mit Monika Gruhl das Resilienz-Zentrum, wo er als Lehr-Coach, Supervisor, Seminarleiter, Ayurveda-Therapeut und Resilienz-Trainer arbeitet.
www.resilienzzentrum.de

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September 2015)
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