15. September 2015

Der Traum von einer Welt ohne Geld

Von nst1

Offener Brief an Raphael Fellmer, Konsumkritiker

Sehr geehrter Herr Fellmer,

seit fünf Jahren haben Sie Ihr Leben so eingerichtet, dass Sie völlig ohne Geld auskommen: kein Konto, keine Scheine, keine Münzen, keine Miete, keine Steuern. Unvorstellbar! Aber: Respekt!
Das Geldzeitalter sei nur eine Phase der sozialen Entwicklung des Menschen. Geld brauche es nicht, damit Gesellschaft funktioniert, meinen Sie. Elementare Dinge wie Freundschaft und Glück seien sowieso nicht käuflich. Geld schaffe Abhängigkeiten und korrumpiere die Beziehungen. Teilen sei besser, Sharing Economy im Aufwind, uneigennütziges Geben sollte in Ihren Augen das Geld ersetzen: Jeder bringt seine Talente ein und nutzt nur, was er tatsächlich braucht.
Sie profitieren davon, dass Leute Ihre Familie umsonst mitwohnen lassen. Als „Lebensmittelretter“ leben Sie von Top-Nahrungsmitteln, die Geschäfte ausrangiert haben, und können Nachbarn noch mitversorgen. Wer Sie „Schmarotzer“ nennt, dem halten Sie entgegen, dass unsere Gesellschaft als Ganzes „schmarotze“ – es bräuchte vier Erden, wollten wir allen Menschen unseren hohen Lebensstandard zugestehen; dass fast die Hälfte der Lebensmittel weggeworfen wird; dass wir neue Autos, Smartphones, Kleidungsstücke kaufen, obwohl unsere alten noch nicht aufgebraucht sind. Ein Leben im Überfluss, Verschwendung auf Kosten der Umwelt, künftiger Generationen, von Sklaverei, Armut, Hunger, Krieg in anderen Teilen der Welt! Dabei geben wir uns unschuldig, als würden wir die Zusammenhänge nicht kennen. Wir leben über unsere Verhältnisse. Was wir woanders damit anrichten, dass Menschen deswegen nicht mal das Nötigste haben, ist egal. Eine solche Einstellung ist nicht mehr auf der Höhe der Zeit! Das halten Sie uns mit Ihrem konsequenten Lebensstil vor Augen. Eine unbequeme Wahrheit. Aber wir sollten Ihnen dafür dankbar sein!
Sie träumen nicht nur von einer besseren Welt, sondern arbeiten auch konkret daran: beraten Läden, wie sie dahin kommen können, weniger Nahrungsmittel wegzuwerfen; haben die von mehreren Tausend Usern genutzte Plattform foodsharing.de mitgegründet, über die Privatpersonen, Produzenten und Händler Lebensmittel teilen können, anstatt sie in den Müll zu geben.
Sie erwarten nicht von allen, so extrem wie Sie zu leben und auch in den „Geldstreik“ zu treten. Ein Leuchtturm wollen Sie sein, ein Mahner in der Wüste. Sie regen zum Nachdenken und zu Verhaltensänderungen an: Was bewirkt mein Kaufverhalten, was brauche ich wirklich, was ist reine Gewöhnung, was Suche nach Anerkennung? Seitdem Sie geldlos leben, sagen Sie, haben Sie mehr Zeit für das Wesentliche, für die zwischenmenschlichen Beziehungen.
Eine geldfreie Welt scheint uns utopisch zu sein. Wir teilen jedoch Ihre Ansicht, dass wir von einer „Was brauche ich?“- zu einer weltweit gedachten „Was brauchen wir?“-Haltung gelangen müssen, und wollen mit dieser Zeitschrift dazu beitragen. Wir wünschen Ihnen Erfüllung mit Ihrer Art zu leben, Kraft für Ihren Einsatz für ein neues Konsumverhalten und eine große Resonanz!

Mit freundlichen Grüßen,

Clemens Behr
Redaktion NEUE STADT

Unser offener Brief wendet sich an den Berliner Raphael Fellmer, 32. Von 2010 bis 2011 reiste er „geldfrei“ per Anhalter mit Autos und Segelschiffen von den Niederlanden über Marokko, die kanarischen Inseln, Süd- und Zentralamerika in die USA. Unterwegs entschied er sich, auch weiterhin ohne Geld auszukommen. Seitdem setzt sich Fellmer, der Frau und zwei kleine Kinder hat, für einen Bewusstseinswandel im Konsumverhalten ein. Er hat das auf seiner Webseite kostenlos herunterladbare Buch „Glücklich ohne Geld!“ verfasst.

www.raphaelfellmer.de
de.forwardtherevolution.net
de.eotopia.org

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September 2015)
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