15. September 2015

Lieder, aus Leidenschaft

Von nst1

Der kleine Ort Wimbern im Sauerland beherbergt ein Auffanglager für Flüchtlinge. Zweimal in der Woche packt Franz Janßen seine Gitarre ein, besucht die Kinder dort und singt mit ihnen.

„Hey, hello, merdita…“ Franz Janßen holt seine Gitarre aus der Hülle, stellt einen Notenständer auf und stimmt ein Begrüßungslied an. Um ihn herum eine Schar von Kindern: Einige sitzen still auf dem Teppich und beobachten den fremden Herrn, der in ihre Flüchtlingsunterkunft gekommen ist. Andere wirbeln um ihn herum, nähern sich neugierig dem Instrument: Er merkt, wie es ihnen in den Fingern zuckt – am liebsten würden sie selbst in die Saiten greifen. Und Franz Janßen lässt sie zupfen; wenn nicht zu Beginn, dann gegen Ende der Gesangsrunde. „Bonjour, guten Tag, welcome, buenos dias…“ Sind Kinder aus einem „neuen“ Land dabei, kitzelt der 77-Jährige aus ihnen heraus, wie man sich bei ihnen zu Hause begrüßt, und baut die Antwort in das Lied ein.

Franz Janßen macht regelmäßig mit Flüchtlingskindern Musik. (Foto: privat)

Franz Janßen macht regelmäßig mit Flüchtlingskindern Musik. (Foto: privat)

Die Mädchen und Jungen in der Anlaufstelle für Asylbewerber in Wickede-Wimbern kommen aus dem Kosovo, Albanien, Syrien, Eritrea, Nigeria… Sie sind zwischen vier und zwölf Jahre alt, können kein Wort Deutsch und bleiben durchschnittlich zwei bis drei Wochen. Die vom Malteser Hilfsdienst geführte Notunterkunft in Wimbern ist für sie nur eine Durchgangsstation. Von hier aus werden sie auf andere Unterkünfte in Nordrhein-Westfalen aufgeteilt. „Zuerst hören sie nur zu“, erzählt Franz Janßen. Während er die Akkorde anschlägt, sucht er bewusst den Blickkontakt zu den Kindern, die ihn mit großen Augen anschauen. „Sehr bald singen sie einzelne Wörter nach, dann komplette Verse. Die lernen ganz schnell!“

Die „Zentrale Unterbringungseinrichtung“ Wickede-Wimbern beherbergt bis zu achthundert Flüchtlinge und Asylbewerber aus rund 25 Nationen.

Zwischen zwanzig und vierzig Jungen und Mädchen sind dabei, wenn Franz Janßen Lieder singt. Sie handeln von den Farben, den Jahreszeiten, Pflanzen und Tieren. Der pensionierte Lehrer greift auf seine Erfahrungen aus der aktiven Zeit im Beruf zurück. „Aber Musikunterricht wie damals, das läuft nicht. Ich muss mir zündende Lieder überlegen, die die Kinder unmittelbar ansprechen!“ Über den Gesang vermittelt er ihnen ein erstes Gefühl für die deutsche Sprache. „Aber vor allem geht es mir um die Beziehung!“
Dazu eignet sich Franz Janßen Lieder aus ihren Heimatländern an. Er sucht sie aus Schulbüchern zusammen, die er sich ausleiht, und übt sie zu Hause ein. „Im Internet habe ich ‚Bruder Jakob’ auf Albanisch gefunden. Das gibt es in über zehn Sprachen.“ Hat er Glück, kennen einige das Lied und singen mit. Und wenn er mit einem neuen Song in einer fremden Sprache nicht zurechtkommt, spannt er einfach die Mütter mit ein und lässt sich den Text vorsprechen.
Zweimal in der Woche singt Franz Janßen in der Flüchtlingsunterkunft. „Für etwa eine Dreiviertelstunde – so, wie ich es schaffe.“ Die Kinder, die ihn zum wiederholten Mal erleben, singen die Lieder schon mit. „Simama kaa: Das ist ein Lied aus Tansania mit Bewegungen: Wir hocken uns hin, stehen auf, laufen…“
Alles begann, als Franz und seine Frau vor zwei Jahren Goldhochzeit hatten. Damals war im Gespräch, dass das ehemalige Marienkrankenhaus in Wimbern für Asylsuchende umfunktioniert werden sollte. Statt persönlicher Geschenke erbaten Janßens von ihren Gästen Geldspenden für die Flüchtlinge, die künftig in ihrer Nähe unterkommen würden. Weil die Fußball-WM in Brasilien vor der Tür stand, wollten sie zunächst mit dem Geld, das zusammenkam, Fußballtore anschaffen. Aber ein Gespräch mit der Leitung der Einrichtung ergab, dass Koffer, Kleidung und Spiele dringender gebraucht wurden. Franz Janßen setzte Inserate in die Lokalzeitungen, in denen er auch den Wunsch nach einer Gitarre erwähnte. Viele ehemalige Schüler und deren Eltern kannten ihn und zeigten sich großzügig: „Ich bekam unter anderem hundert Koffer und fünf Gitarren!“ Auch Briefumschläge mit Geldspenden wurden ihm zugesteckt.
Verständlich, dass es auch Bedenken und Widerstände gab, bevor die ersten Asylbewerber im April 2014 eintrafen. Immerhin hatte Wimbern nur 830 Einwohner. Auf der anderen Seite hat sich die Bevölkerung von Anfang an mit viel Herzblut für die Flüchtlinge engagiert. Der Freundeskreis „Menschen helfen Menschen“ entwickelte sich aus einer Facebook-Initiative – ein Verein, der den Asylbewerbern „Gastfreundschaft und Menschlichkeit“ entgegenbringen will, aber auch in der Bevölkerung Aufklärung über die Situation der Migranten betreibt. Dank seines Engagements erhält jedes Kind ein kleines Begrüßungspäckchen mit einfachem Spielzeug und Bilderbüchern; Tischtennisplatten wurden aufgestellt, ein Beachvolleyballfeld angelegt, Begegnungen organisiert. Der Kreis, in Wickede und Umgebung initiiert, hatte bereits Ende 2014 fünfhundert Mitglieder. Darüber hinaus geben freiwillige Helfer Sprachunterricht; Franz Janßen hatte schließlich die Idee, sein Musiktalent einzubringen.
Je nach Jahreszeit bekommen die Flüchtlingskinder etwas von den Festen und Bräuchen in ihrer neuen Umgebung mit. „Vor dem Martinsumzug üben wir zwei, drei Martinslieder“, erzählt Franz Janßen. „Oder der Nikolaus kommt zu ihnen; sie erhalten kleine Geschenke und ich singe dann halt mit den Kindern. Dann lass ich mir was einfallen als Dankeschön oder improvisiere. Da muss man beweglich sein!“

„Gestern haben die Kinder mit einem Singspiel neue Wörter gelernt“, fährt Janßen fort.

„Das Lied dazu geht so: ‚Ein Radieschen rund und dick wächst in unserem Garten. Hau ruck, Hau ruck, das Radieschen rückt kein Stück. Ein Mädchen oder Junge – hier setzen wir den Namen eines Kindes ein – kommt und guckt und staunt: Was für ein Radieschen!’ Dafür hatte ich zwei Bund Radieschen mitgenommen, so dreißig Stück, und habe zuerst mal eins genommen. Ich habe erklärt, was das ist, und mit ausladenden Gesten ‚rund’ und ‚dick’ und ‚Garten’ dargestellt.“ Das größte Mädchen in der Runde hatte eine rote Jacke an. Sie hat sich auf den Boden gesetzt und war das Radieschen. „Dann haben wir mit einem anderen Kind das ‚Hau ruck!’ vorgespielt. Andere Kinder haben sich drangehängt, bis eine Kette von vier, fünf Kindern an dem roten Radieschen zogen und es schließlich ‚herausrissen’.“
Zur Veranschaulichung der Wörter greift der Pensionär auch auf Bilder zurück. „Es hängen sehr viele rundherum an den Wänden, Dinge, die wir gebastelt oder gemalt haben.“
Franz Janßen kann nur erahnen, was die Kinder auf ihrer Flucht alles mit ansehen und erleben mussten. Wegen der Sprachschwierigkeiten und der kurzen Aufenthaltsdauer können sie ihm nicht viel erzählen. „Aber das ist auch nicht wichtig. Wichtig ist, dass die Kinder Vertrauen haben und sich wohlfühlen!“ Mit seinen Liedern entführt er sie in eine andere Welt. „Es ist einfach toll, wie sie so bunt und verschieden vor mir sitzen, wie die Gesichter sich erhellen, wie sie auftauen, lauschen, mitgehen, reagieren. Die Freude mit den Kindern zu erleben, wenn wir singen, das Strahlen in den Augen: Die Musik schließt die Menschen auf und verbindet sie.“
Clemens Behr

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September 2015)
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