15. Oktober 2015

Ich konnte nicht vorbeifahren

Von nst1

Erfahrungsberichte: Leben nach dem Wort Gottes 

Ich konnte nicht vorbeifahren

Bei meiner Arbeit muss ich oft Waren ausliefern und habe deshalb häufig im Zentrum von Athen zu tun. Meistens fahre ich dann dieselben Straßen. An einem heißen Tag im August fiel mir ein Obdachloser an einer Straßenecke auf. Ich hatte ihn auch früher schon oft gesehen. Es war wohl seine Ecke und der Karton sein Zuhause. Jetzt schien er fast zusammengebrochen zu sein. Bisher hatte ich noch nie angehalten. Aber an diesem Tag konnte ich nicht einfach vorbeifahren – auch wenn ich dadurch mit den Lieferungen in Verzug kommen würde. Als ich rechts ranfuhr, haben zwei Polizisten mich von Weitem sofort gewarnt, dass ich da nicht halten durfte. Sie drohten mir sogar ein Bußgeld an. „Schaut lieber dahin“, antwortete ich, „wo Leute in Schwierigkeiten sind.“ Die beiden wandten sich ab und ich ging in die nächste Bar, um etwas Kaltes zu trinken zu holen.
Dann ging ich zurück zu dem Obdachlosen, habe mich ihm vorsichtig genähert. Trotzdem verschreckte ich ihn wohl. Er wirkte sehr müde und wusste offensichtlich nicht, was passiert war. Als er sich ein wenig beruhigt hatte, hielt ich ihm das Getränk hin. Er hat es mit einem frohen Lächeln angenommen. Sofort ging es ihm ein wenig besser. Immer wieder bedankte er sich bei mir. Als ich ging, blieb mir sein Lächeln im Herzen – und alles um mich herum schien freundlicher, sogar die Polizisten.
Seit dem Tag halte ich jedes Mal an, wenn ich an der Kreuzung vorbeikomme, und grüße den Obdachlosen. Durch dieses Erlebnis ist mir klar geworden, dass ich mich sogar dann für mehr Geschwisterlichkeit einsetzen kann, wenn ich den ganzen Tag im Lastwagen unterwegs bin.
A.G. (Griechenland)

Ganz gerecht fand ich es nicht.

Bei einem Gerangel in der Schule mit seinem Cousin und unserem Nachbarskind hat unser Sohn Elia die Brille dieses Kindes kaputt gemacht. Mit der Nachbarin verständigten wir uns darauf, dass wir die Angelegenheit unserer Versicherung melden würden. Trotzdem blieb ein hoher Eigenanteil, den wir selbst tragen mussten.
Ich kämpfte mit mir, denn so ganz gerecht fand ich es nicht. Schließlich hatte auch Elia einen ordentlichen Schlag vom Nachbarsjungen abbekommen. Und mir kam der Gedanke, dies der Nachbarin deutlich zu sagen. Aber dann beschloss ich, meine Einwände doch beiseitezuschieben. Auch für meinen Mann Massimo war es nicht leicht, dass die Nachbarn so selbstverständlich davon ausgingen, dass wir alles auf uns nahmen. Seit diese Nachbarn hier wohnten, hatten wir immer wieder versucht, Schritte auf sie zu zu machen. Beide Elternteile arbeiten. Und wir versuchten, Verständnis für ihre Situation aufzubringen, auch dann, wenn ihr Sohn fragte, ob er mit Elia spielen konnte und es bei uns so gar nicht passte. Nun befürchtete ich, dass unsere mühsam aufgebaute Beziehung leiden würde.
Trotzdem versuchten wir, alles schnell abzuwickeln. Und als das Geld von der Versicherung kam, besprachen Massimo und ich, dass wir den Nachbarn doch die ganze Summe – also auch unseren hohen Eigenanteil – geben wollten. Bevor ich zum Vater des Nachbarkindes ging, um ihm das Geld zu bringen, versuchte ich den Rest Bitterkeit und die kleinen „Wenn und aber“ aus meinem Herzen noch beiseitezuräumen, um wirklich Jesus in ihm zu begegnen. Tatsächlich konnte ich ihm das Geld dann innerlich ganz frei übergeben.
Am nächsten Morgen traf ich bei der Bushaltestelle die Mutter. Sie bedankte sich sehr für das Geld und wollte mir unseren gesamten Eigenanteil zurückgeben. Frohen Herzens bot ich ihr an, uns den Betrag zu teilen. Das war finanziell eine große Erleichterung für uns, aber das Allerschönste war, dass die Beziehung zu den Nachbarn nicht gelitten hatte, sondern im Gegenteil jetzt noch schöner und intensiver ist.
S.C.

Entlasst lieber mich!

Bei mir in der Fabrik wurden in den letzten Tagen Entlassungsbriefe verteilt. Einer davon ging an Giorgio. Weil ich seine enge finanzielle Situation kannte, ging ich zu ihm hin und sagte zu ihm: „Komm mit!“ Gemeinsam steuerten wir das Personalbüro an. Dort sagte ich dem Personalchef: „Mir geht es besser als ihm, denn meine Frau arbeitet auch. Entlasst also lieber mich.“ Der Chef versprach uns, die Angelegenheit noch einmal zu überprüfen. Draußen umarmte Giorgio mich; er war ganz bewegt.
Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Zwei andere Arbeiter, in ähnlicher Situation wie ich, boten ebenfalls an, anstelle von zwei anderen Mitarbeitern zu gehen. So wurde die Geschäftsleitung gezwungen, noch einmal über die Auswahl und die Art und Weise der Kündigungen nachzudenken.
Auch der Pfarrer unserer Gemeinde hatte von der Sache erfahren und am Sonntag in seiner Predigt davon erzählt – ohne Namen zu nennen. Am nächsten Tag erzählte er mir, dass daraufhin zwei Studentinnen zu ihm gekommen waren und ihm ihre Ersparnisse „für die Arbeiter“ gebracht hatten: „Auch wir wollen die Geste des Arbeiters nachahmen.“
B.S.

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Oktober 2015)
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