12. November 2015

Wenn der Fernseher dir lauscht

Von nst1

Autos, die alleine fahren; Kühlschränke, die selbstständig Lebensmittel nachbestellen; eine Software, die Gesichter erkennt und mit Charakterzügen und Konsumgewohnheiten verknüpft:  Immer mehr intelligente Maschinen durchleuchten unsere Privatsphäre und nehmen uns die Arbeit und das Denken ab. Wohin führt das? – fragt sich Giulio Meazzini von unserer italienischen Schwesterzeitschrift Città Nuova.

Es ist ja so bequem! Warum den Fernsehsender per Fernbedienung wechseln, die wir eh wieder verlegt haben? Wir sprechen einfach „Kanal 8“ in Richtung Fernseher und er folgt. Warum erst auf dem Smartphone die Nummer des Freundes suchen? Angenehmer ist es, „Bernd anrufen!“ ins Handy zu flüstern, und es gehorcht. Möglichst simpel, sofort, intuitiv, so wollen es alle.

Die Stimme

Sind wir also einverstanden, dass in Fernsehern und Smartphones ständig ein Mikrofon aktiv ist, um Befehle entgegenzunehmen? Dahinter steckt eine Software, die Ihre Wörter zu einem Datenverarbeitungszentrum weiterleitet – vermutlich in Kalifornien. Das übersetzt Ihre Stimme in Signale, die wiederum Ihren Fernseher dazu bringen, den gewünschten Kanal einzustellen. Merkwürdig? Nein, ganz logisch! In einer per Glasfaserkabel verbundenen Welt sind Entfernungen für Botschaften, die mit Lichtgeschwindigkeit zirkulieren, kein Problem.
Sobald ich ein neues, internetfähiges TV in Küche oder Wohnzimmer anschließe, weiß ich, dass jedes Wort von mir irgendwo auf der Welt erfasst werden kann: Ob ich meiner Frau sage, wie gern ich sie hab, oder „Tor!“ schreie, wenn meine Fußballmannschaft trifft, ob ich laut bete, mit dem Geschäftspartner den neuesten Auftrag bespreche oder im Schlaf rede.
Genauso beim Smartphone in meiner Jackentasche: Jemand – vielleicht in Japan – kann meinen Gesprächen lauschen. Immer. Arbeiten die Fernseher und Smartphones schon jetzt auf diese Weise? Nicht alle, aber die Tendenz geht in diese Richtung.

Das Bild

Smartphones, tragbare Computer und neue TVs haben eine kleine Kamera, die es erlaubt, Fotos von sich selbst oder anderen aufzunehmen. Wer hat nicht Bilder und Videos auf seinem Handy, die er über Facebook, Twitter oder Whatsapp mit seinen Freunden teilt? Einfach, unterhaltsam, unwiderstehlich. Die Kamera jedoch wird von einer Software verwaltet, die uns aufnehmen kann, ohne dass wir es merken, selbst wenn das Smartphone ausgeschaltet ist.
So ist die „intelligente“ Technologie von uns unabhängig geworden, kann ferngesteuert werden, uns sehen, hören und das Aufgenommene im Netz verschicken. Die Absichten des Herstellers kennen wir nicht; uns bleibt nichts, als ihm zu trauen.

Das Gesicht

In den letzten Jahren ist die Gesichtserkennung verbessert worden: Verblüffend, dass die Software heute in der Lage ist, eine einzelne Person in einer Menschenmenge zu identifizieren. Deepface von Facebook täuscht sich in nur zwei Fällen von hundert. Die Macht dieser scheinbar harmlosen Tatsache ist unglaublich: Die Technologie kann automatisch jedem Gesicht Name, Studium, Beruf, Charakter, Freunde, Meinungen, Präferenzen des Eigentümers zuordnen. Alles Daten, die sie dem Internet entnimmt, vor allem den sozialen Netzwerken. Sie heißt Faceprint und ist mehr wert als digitale Fingerabdrücke oder der entzifferte DNA-Code.
Die Privatsphäre verschwindet zusehends. Wir werden ständig im Rampenlicht stehen, im Blick der Welt: Zu Hause, in der U-Bahn, im Büro, im Park kann uns jemand zuhören oder aufnehmen. Mit unserem eigenen Handy, einer öffentlichen Sicherheitskamera oder einer Computerbrille von Google.
Werden wir uns noch natürlich bewegen, wenn wir wissen, dass wir beobachtet werden? Werden wir unter Verfolgungswahn leiden? Kein Gesetz schützt bisher unser Gesicht oder unsere Stimme. In jedem Fall agieren Facebook und Google global: Die Daten bewegen sich in ihren Netzen unabhängig von Grenzen und nationalen Gesetzen. Ein Albtraum?

Profile

Dem Algorithmus 1) reichen 150 „Gefällt mir“-Klicks im Internet, um ein perfektes Profil meiner Persönlichkeit zu erstellen: extrovertiert, gesellig, gewissenhaft, gefühlsmäßig stabil, geistig offen… Automatisch kennt er meine Charakterzüge besser als meine Freunde, Eltern oder Geschwister. Forscher haben nachgewiesen: Nur Ehepaare haben eine so intensive Beziehung, dass sie den Algorithmus schlagen können. Noch. Die massenweise Erstellung von Persönlichkeitsprofilen hat begonnen.

Ersetzt

Unterdessen ersetzt uns die Technologie, übernimmt unsere Jobs: Neue U-Bahnen werden nicht mehr von Menschen gelenkt. Autos ohne Fahrer bewegen sich auf den Straßen. Was wird aus den LKW- und Taxifahrern? Auch mein Beruf Journalist droht zu fallen: Ein wachsender Teil von Sport- und Wirtschafts-Artikeln wird bereits von Algorithmen verfasst, ohne dass es die Leser gemerkt hätten! An den Aktienbörsen werden An- und Verkäufe automatisch getätigt, Menschen wären viel zu langsam: Entscheidungsprozesse werden automatisiert.
Der Prozess, Menschen durch Computer-Algorithmen zu ersetzen, schreitet dermaßen voran, dass eine Gruppe von Wissenschaftlern mit dem Astrophysiker Stephen Hawking an der Spitze Alarm schlägt. Sie sind nicht technikfeindlich, sondern wollen schlicht, dass der Mensch die Fäden in der Hand behält, wenn intelligente und autonome, lernfähige Maschinen ihm in seinem Alltagsleben immer mehr zur Seite stehen. Denn die sozialen, wirtschaftlichen, zwischenmenschlichen und ethischen Konsequenzen sind unvorhersehbar. Einige Fragen, die sich zum Beispiel stellen: Können Maschinen im Fall von Programmierfehlern ungewollt die Menschheit zerstören? Wer bezahlt die von Maschinen verursachten Schäden? Wie wirkt es sich auf die Beziehungsfähigkeit von Senioren oder Kindern aus, wenn ihr Betreuer ein Roboter ist?
Wir sind an einer Weggabelung der Geschichte angelangt. Eine epochale Herausforderung erwartet uns. Im Vergleich mit den Maschinen haben wir Menschen den Nachteil, dass wir schwach, mit Fehlern behaftet und streitlustig sind. Aber wir haben auch die Fähigkeit zu einer kulturellen und moralischen Evolution, die seit Bestehen der Menschheitsfamilie nie unterbrochen wurde.
Giulio Meazzini

1) Ein Algorithmus ist ein Rechenvorgang nach einem bestimmten, wiederkehrenden Schema. Algorithmen steuern Computer und Maschinen, dienen aber auch der Suche und Analyse von Daten im Internet.

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2015)
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