15. Dezember 2015

„Viele Malteser beginnen sich zu öffnen.“

Von nst1

Bei einer einwöchigen Jugendbegegnung in Malta haben sich 15 Jugendliche aus Deutschland unter anderem für Flüchtlinge engagiert.  Wie geht das kleine Mittelmeerland mit ihnen um? Lea Ochßner, 23, beschreibt ihre Beobachtungen und Erlebnisse.

„Tipsy, tapsy, boom“: Die kleine Deborah schlägt mit dem Zauberstab gegen den Ballon. Er platzt und eine zahme Taube sitzt auf der Hand von Mr. Alfred, dem Zauberer. Da werden die Augen der Kinder groß. Jeder darf die weiße Taube streicheln. Nur Deborah will nicht, obwohl sie die Taube herbeigezaubert hat. Zusammen mit Jugendlichen aus Malta und Deutschland bin ich zu einem Spielenachmittag mit Flüchtlingskindern in einen Park gefahren. Im Moment läuft eine Zaubershow. Der schon etwas ältere „Mr. Alfred“ verzückt die Kinder mit Luftballons, aus denen er mit flinken Händen Schwäne, Hunde und Schwerter dreht, mit Kartentricks und anderen Zaubereien.

Maltesische Fischer sortieren ihre Netze. - Foto: C. Behr

Maltesische Fischer sortieren ihre Netze. – Foto: C. Behr

Eine Woche lang sind wir an einem der südlichsten Punkte Europas. Auf einer der Inseln, die häufig wegen der ankommenden Flüchtlingsboote in den Schlagzeilen war. In Malta, das mit 316 Quadratkilometern gerade mal so groß ist wie die Stadt Bremen und nur 430 000 Einwohner zählt, waren schon zwischen 2004 und 2009 verhältnismäßig viele Asylbewerber gelandet. Keine 300 Kilometer von der afrikanischen Küste entfernt, fühlte sich das kleine Land schließlich überfordert, machte eine unbarmherzige, abschreckende Politik. Wer an Maltas Küsten landete, kam ins Gefängnis. Heute werden Flüchtlinge in acht sogenannten Open Centers untergebracht. 2014 waren es laut UNHCR, der UN- Flüchtlingsbehörde, 2220, im Juli 2015 nur noch 770.
Mit 14 anderen Jugendlichen aus Deutschland treffe ich 15 maltesische Jugendliche. Wir wollen uns über Themen wie Geschwisterlichkeit austauschen, Maltas Kultur kennenlernen und uns sozial engagieren, vor allem mit Flüchtlingskindern.
An einem heißen Donnerstagnachmittag sind wir im Park angekommen. Sofort stürmen die Kinder aus dem Bus und sprinten in alle Himmelsrichtungen davon, schreien, beschimpfen sich und rangeln miteinander. „Na, wenn das so weitergeht!“, denke ich entsetzt und beklage mich bei Luke, einem Malteser. Er hilft mir, die Situation besser zu verstehen: „Die Kinder wachsen in beengten Verhältnissen auf. Logisch, dass sie, wenn sie auf einmal so viel Platz haben, die Chance nutzen und sich austoben.“ Nach der ersten Sturm-und-Drang-Phase wird der Umgang miteinander einfacher. Wir spielen ein bisschen Ball mit den Kindern und machen später eine

Startschuss zur Wasserbombenschlacht. - Foto: privat

Startschuss zur Wasserbombenschlacht. – Foto: privat

Wasserbombenschlacht. Als Aufsichtsperson ist Joanna dabei. Die 38-Jährige arbeitet seit drei Jahren ehrenamtlich mit Flüchtlingen und organisiert Aktivitäten wie diese. Damit angefangen hat Joanna zusammen mit anderen, als die ersten Schiffe kamen. Über die Facebookseite „Help the children of Halfar“ rief sie dazu auf, Dinge zu spenden, die die Flüchtlinge am dringendsten brauchten, wie Kleidung und Trinkwasser. Und auch drei Jahre später opfert sie noch oft ihre Freizeit, um den Kindern ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern.
Während wir im Park waren, hat Theresa, eine 20-jährige Deutsche, mit der ich ein Hotelzimmer teile, mit Jugendlichen Fußball gespielt: „Auch wenn es nur kurz war, hat mich das sehr bewegt“, erzählt sie nachher. „Die Kommunikation war nicht leicht, weil sie nicht so gut Englisch sprechen und wohl auch nicht so gerne von sich erzählen. Aber man konnte erahnen, dass sie schon viel durchgemacht haben und viel von ihnen abverlangt wurde.“
Die Aufmerksamkeit für das Schicksal der Flüchtlinge hat sich auf die Balkanroute verlagert; Malta ist zur Zeit nicht so stark im Blick der Öffentlichkeit. Rachel, Malteserin, bestätigt: „Im Moment passiert hier nicht so viel. Aber vor einigen Monaten wurden an unseren Stränden Kinderleichen angespült. Das hat uns wieder gezeigt, dass wir nicht die Augen verschließen dürfen, sondern das Problem immer noch aktuell ist.“ Auch Katrine Camilleri vom „Jesuit Refugee Service Malta“, Juristin und Uni-Professorin, erzählt in einer Rede im Vatikan von einer solchen Tragödie: „Am 11. Oktober 2013 ist nicht weit von Lampedusa ein Fischerboot untergegangen mit über 400 Männern, Frauen und Kindern an Bord.“ Die meisten waren gebildet und hatten gültige Pässe dabei, aber kein Visum für Europa bekommen. Sie hätten die maltesische Küstenwache verzweifelt um Hilfe angerufen, aber niemand sei gekommen, um sie zu retten.
„Die meisten Malteser fangen jetzt an, sich zu öffnen“, sagt die 21-jährige Rachel. „Sie erkennen, dass etwas getan werden muss. Vorher war diese Einstellung nicht da.“ Dabei sei vor allem die Kultur hilfreich. Viele Malteser seien sehr interessiert an afrikanischer Musik oder afrikanischem Essen. Das hilft, Kontakte zu knüpfen. Von ihrer Geschichte sind die Malteser ein multikulturelles Volk: Ihre Inseln waren von Phöniziern, Griechen und Römern beherrscht, von germanischen Völkern und Arabern. Jetzt entdecken sie ihre Vielfalt neu.

Foto: privat

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Er nennt sich „Fish“, weil sein afrikanischer Name für die Europäer zu kompliziert ist. Vor sechs Jahre begann seine Flucht aus Eritrea, erzählt er uns. Damals war er 19. Die Regierung seines Landes, die für schwere Menschenrechtsverletzungen bekannt ist, zieht junge Leute auf unbestimmte Zeit zum Militärdienst ein, manchmal jahrzehntelang. Fish wollte an einen besseren Ort. Zunächst flüchtete er nach Äthiopien, wo er in einem Lager untergebracht wurde. Zwar musste er etwas arbeiten, aber sonst bestand sein Alltag nur aus essen, trinken und schlafen. Kein Leben für einen Mann, der etwas Sinnvolles erreichen will. So ging er in den Sudan. Dort arbeitete er sehr viel, hatte aber keine Freiheit. Also weiter nach Libyen: zusammengepfercht mit 130 anderen Leuten in einem Truck durch die glühend heiße Wüste. Zwei Tage ohne Halt, für jeden nur eine kleine Wasserflasche. „Fünf Menschen haben die Fahrt nicht überlebt“, sagt Fish.
Auch in Libyen probierte er, sich ein Leben aufzubauen, fand jedoch keinen Kontakt zu den Einheimischen. So bestieg er, immer auf der Suche nach einem besseren Ort, ein Boot, ohne Kapitän, über das Mittelmeer. Er landete auf Malta. Seit vier Jahren lebt er jetzt hier, sagt, er habe Glück gehabt. Als Friseur verdient er etwas Geld. „Ich bin glücklich mit meiner Situation, aber nicht, wenn ich zurückdenke. Denn viele meiner Freunde sind einfach verschwunden, haben es nicht geschafft.“ Es ist hart für ihn, über diese Erfahrungen zu sprechen. Manchmal zittert seine Stimme, aber ich höre auch, wie erleichtert er ist. Vor allem, als er seine Zukunft anspricht: „Es steht schon fest, dass ich in einem Jahr nach Amerika gehen kann.“

Foto: privat

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Mich wundert, dass die meisten Flüchtlingskinder die Landessprache sprechen. „Die Kinder gehen in staatliche Schulen, wo auf Maltesisch unterrichtet wird. So können sie sich später besser in die Gesellschaft integrieren,“ erklärt Joanna. Und die meisten Eltern bekommen Jobs vermittelt, ergänzt Rachel: „Die Flüchtlinge arbeiten als Tellerwäscher oder Putzfrau. Das ist gut, weil nur wenige Malteser solche Arbeiten übernehmen wollen.“
Am Strand von Mabilla ist es bereits vormittags um halb elf recht voll. Nach anfänglicher Schüchternheit tauen die Kinder auf. Sarah kommt mit ihrer Taucherbrille angeschwommen und kitzelt mich unter Wasser. Ihr Bruder Abdullah zeigt Kunststücke wie eine Rolle vorwärts im Wasser. Die Kinder spielen Ball, spritzen sich nass, auch ein menschlicher „Hai“ jagt sie zwischendurch. Die zwei Stunden gehen schnell vorbei. Der anfangs stille, zurückgezogene Dagem will gar nicht mehr zurück, stürzt sich immer wieder in die Wellen. Nach fünf Minuten Katz-und-Maus-Spiel kann ihn eine Erzieherin doch bewegen, sich abzutrocknen: Ihn lockt ihr Versprechen, dass der nächste Ausflug ins Aquarium führt. Wir Deutschen sind leicht erschöpft, aber froh, dass wir etwas für die Kinder tun konnten. „So gern hätte ich ihnen etwas mehr mitgegeben als ein nettes Wort und ein Lächeln“, erklärt Theresa nachdenklich.

Foto: privat

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Die Kinder fahren zurück in ihre Unterkunft, wo die Eltern auf sie warten. Theresa meint zu ihren Erlebnissen auf Malta: „Die Flüchtlinge waren präsent und gleichzeitig nicht sichtbar. Aber allein, dass wir diese Treffen organisieren konnten, hat mir gezeigt, dass die Malteser Kontakt zu Flüchtligen haben und sie unterstützen.“ Ich bin ebenfalls froh über die Erfahrungen, die ich sammeln konnte. Auch wenn unser Aufenthalt nur eine Momentaufnahme sein kann – wir nehmen den Eindruck mit: Der Umgang mit Flüchtlingen auf Malta ist im Wandel begriffen. Die ehrenamtliche Hilfe und das Verständnis der Bewohner nehmen zu. Das macht Mut. Auch für unser Land.
Lea Ochßner

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Dezember 2015)
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