16. März 2016

„Es braucht Herzensbildung.“

Von nst1

Die Flüchtlingssituation treibt unsere Gesellschaft um. Wie muslimische Mitbürger, die schon lange in Deutschland sind, sie erleben, welche Herausforderungen die Lage an sie stellt und wie sie damit umgehen, darüber sprachen wir mit Talat Kamran, dem türkischstämmigen Leiter des Mannheimer Instituts für Integration und interreligiösen Dialog.

Herr Kamran, wie erleben Sie die Situation aktuell in Mannheim?
KAMRAN: Hier im Rhein-Neckar-Kreis haben wir drei Erstaufnahmestellen: Mannheim, Heidelberg, Ludwigshafen. Allein in Mannheim kamen im Dezember 15 000 und in diesem Jahr schon ungefähr 9000 Menschen an. Viele von ihnen werden wieder weggehen. Aber erst einmal müssen sie hier in mehreren Kasernen versorgt werden. Mein Eindruck ist: Die Stadtverwaltung, der Regierungsbezirk, Caritas, Diakonie, Rotes Kreuz, die Sicherheitsbehörden kommen an ihre Grenzen. Trotzdem hat es in der Stadt noch wenig sichtbare Auswirkungen, abgesehen von den Bezirken, in denen die Flüchtlinge verdichtet auftreten, wie etwa dort, wo sie in der Nähe der Unterkünfte einkaufen. Da kann es auch zu Schwierigkeiten kommen: Die Flüchtlinge beachten die Regeln nicht, weil sie sie gar nicht kennen, handeln anders, benehmen sich anders und wie bei uns können auch bei ihnen nicht alle ihre egoistischen Triebe überwinden. Viele können kein Deutsch.
In den Erstaufnahmestellen selbst ist die Lage vor allem für alleinstehende Frauen nicht immer angenehm. Es gibt auch dort große Ängste.

Und wie reagiert die Bevölkerung?
KAMRAN: Sehr viele hoffen, dass die Migranten, die seit vielen Jahren hier leben, eine verbindende Funktion zwischen den Flüchtlingen und der Zivilgesellschaft hier ausüben.
Gleichzeitig nehme ich die Sorge wahr, dass Flüchtlinge mit Migranten wieder eine Parallelgesellschaft bilden. Ich persönlich mag den Begriff nicht, denn er ist eine Beschuldigung und Unterstellung an die Migranten. Meiner Meinung nach wird er immer dann verwendet, wenn bestimmte Erwartungen an Integration nicht erfüllt werden. Aber es gibt auch in der deutschen Gesellschaft Schichten, Milieus, die nichts miteinander zu tun haben wollen. Das kennt man in allen Gesellschaften. Deshalb habe ich ein Problem, wenn man es einseitig auf Migranten spiegelt. Ich befürchte, dass die Diskrepanz zwischen Migranten und hiesiger Gesellschaft wieder aufbricht oder größer wird. Denn die Angst vor Fremden ist da, auch Fremdenhass und rechtsextremistische Bewegungen. Aber trotz dieser Ängste meint es die Mehrheit der Bevölkerung gut und will helfen.

Sie sprachen von den Erwartungen an die Migranten, als Vermittler zu wirken. Wie sehen Sie das?
KAMRAN: Muslime, Türken, … diejenigen, die seit Jahren hier leben, haben dieselben Ängste wie alle. Viele haben wenig Geld und Zeit, bemühen sich aber etwas zu tun.
Als Migranten haben wir wenig Ressourcen, um wirklich gute Angebote zu machen. Wenige sind pädagogisch qualifiziert oder können als Experten gute Arbeit leisten. Die wenigen, die es gibt, wollen auch bezahlt werden. Deshalb haben wir Schwierigkeiten, was die konzeptionelle Arbeit betrifft. Aber wenn man mit öffentlichen Stellen zusammenarbeiten will, braucht man Konzepte.
Ein Ehrenamt kommt für diejenigen in Frage, die sich etabliert, eine wirtschaftliche Basis und Zeit haben. Meines Erachtens braucht ehrenamtliches Engagement auch ein gewisses Bildungsniveau und da fehlt es noch.

Haben Sie denn überhaupt Kontakte zu Flüchtlingen?
KAMRAN: Zu Beginn der Flüchtlingswelle, im September, hatten wir als Muslime keinen Zugang zu den Flüchtlingseinrichtungen, weil wir nicht als öffentliche Körperschaft anerkannt sind. Daher sind wir nicht im System. Die Regierungseinrichtungen beauftragen anerkannte Einrichtungen. Deshalb müssen wir immer erst Kooperationspartner suchen. So wollten wir Essen für die Flüchtlinge verteilen, aber es war sehr schwer, eine Genehmigung dafür zu bekommen. Inzwischen kennen wir die Ansprechpartner und es ist eine Vertrauensbasis gewachsen.
Es gibt eine Scheu und auch Vorurteile dem Islam und muslimischen Gruppen gegenüber. Da will man ganz sicher sein, dass die nicht extremistisch sind. Dafür habe ich Verständnis. Aber bis man das klarstellt, dauert es. Da haben wir Muslime großen Nachholbedarf. Denn bisher haben wir keinen muslimischen Wohlfahrtsverband, eine Organisation, die humanitäre Hilfe leistet wie die Caritas oder die Diakonie. Das ist eine Hürde.
Vielleicht dient diese Situation ja dazu, dass wir uns besser kennenlernen und eine Basis schaffen für die Zukunft, so dass wir dann besser zusammenarbeiten.

Noch einmal zu den Ängsten unter den Migranten, die schon lange hier sind. Welche sind das?
KAMRAN: Dieselben Ängste wie bei allen: Wer sind diese Fremden? Was machen sie in und mit unserer Gesellschaft? Passen sie da rein? Werden sie unser Leben erschweren? Es gibt berechtigte Fragen, aber auch irrationale und irrelevante Ängste. Vieles kommt von einer inneren Unsicherheit.
Bei vielen muslimischen Eltern kommt die Angst hinzu, dass jemand von der Familie radikalisiert wird und in das Netzwerk eines Hasspredigers gelangt. Leider beansprucht der IS, muslimisch zu sein, aber die weltweite Mehrheit der Muslime akzeptiert das nicht und hat große Angst vor diesen Leuten.

Im Alltag ist es also nicht so einfach, Kontakte zwischen Migranten und Flüchtlingen zu knüpfen?
KAMRAN: Am Anfang war es sehr, sehr schwierig. Jetzt ist es einfacher, weil die Flüchtlinge sich leichter bewegen können. Sie suchen nach Moscheegemeinden, vor allem nach arabischsprechenden. Davon gibt es drei in Mannheim. Beim Freitagsgebet sind die voll mit Flüchtlingen. In andere Moscheen kommen weniger Flüchtlinge, einfach wegen der Sprache.

Und wie werden sie aufgenommen?
KAMRAN: Natürlich nimmt man sie auf. Aber man ist auch vorsichtig und passt auf, dass keine Fanatiker und Extremisten kommen. Denn die Möglichkeit besteht. Solche Hassprediger will man nicht. Letztlich geht es dabei um unsere gemeinsame Gesellschaft. Die wollen wir nicht aufs Spiel setzen.

Was können hiesige Muslime wie Christen tun, um den Flüchtlingen eine Heimat zu bieten?
KAMRAN: Diese Menschen haben ihre Häuser und ihr gewohntes Leben hinter sich lassen müssen und alles ist in der Anfangsphase sehr schwierig. Da können Christen wie Muslime ihnen mit Herzenswärme begegnen. Im ersten Moment geht es vor allem um das Materielle. Aber das reicht nicht, es geht auch um den Geist. Und da braucht es andere Angebote, zum Beispiel durch christliche oder muslimische Seelsorge. Es braucht Herzensbildung. Dazu zählt Kunst, Dichtung, Musik und Tanz. Die Fanatiker wollen den Islam auf trockene Regeln und Gesetze beschränken. Doch der Islam ist eine große Kultur. Das müssen wir unseren Kindern nahebringen, so können wir sie gegen Fanatismus immunisieren. Deshalb müssen wir in Moscheegemeinden ein Konzept erarbeiten und es dann einbringen. Das ist nicht ganz einfach, denn bei den Behörden will man nur „neutrale“ Angebote. Dort denkt man, die wollen missionieren. Aber es geht darum, Menschen zu bilden, ihnen auch etwas für ihren Geist und die Seele anzubieten, damit sie sich öffnen können, Sympathie und Empathie zeigen und auch die Traumata, die sie erlebt haben, leichter verarbeiten können. Wenn man Religiösität zu sehr ausgrenzt, entsteht ein Vakuum. Dahinein kommen dann die Extremisten. Das haben wir hier noch nicht richtig verstanden. Die meisten Flüchtlinge sind Muslime. Sie brauchen nicht nur Lebensmittel.
Die Situation ist für Muslime in Europa doppelt schwierig: Die eigene Religion wird durch den Terror des IS befleckt, und wir müssen uns rechtfertigen. Normale Muslime werden mit religiösen Fanatikern in denselben Topf geworfen.

Was wünschen Sie sich von Christen, Muslimen, der Bevölkerung hier?
KAMRAN: Was wir hier in Europa im Moment leisten ist ein humanitärer Akt. Jeder einzelne Bürger hier, egal welcher Herkunft, muss sich überlegen, welchen Beitrag er geben kann. Das ist sehr gut angelaufen; da müssen wir weitermachen und dürfen uns nicht von den Ereignissen kleinkriegen lassen. Es gibt überall schwarze Schafe.
Außerdem braucht es ganzheitliche Konzepte, die nicht nur auf Sicherheitsfragen beruhen. Es geht auch um Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Menschlichkeit, Herzensbildung. Dabei sollten auch Migranten mehr einbezogen werden und sich mehr einbringen.
Wir müssen unser Paradigma ändern; es geht nicht weiter wie bisher und wir brauchen positive, konstruktive Beiträge. Wenn die Stimmung in der Bevölkerung kippt, wird vieles, was in den letzten Jahren gewachsen ist, auf die Probe gestellt. Da sind wir alle gefragt. Das hier ist auch unsere Gesellschaft. Wir können sie nur gemeinsam gestalten.

Vielen Dank für das Gespräch.

Gabi Ballweg

Talat Kamran
ist Politikwissenschaftler und Leiter des Mannheimer Instituts für Integration und interreligiösen Dialog. Es wurde 1995 gegründet, nachdem dort der Bau der damals größten Moschee Deutschlands, der Yavuz-Sultan-Selim-Moschee, den Bedarf an Austausch und Dialog deutlich gemacht hatte.
Der türkischstämmige Muslim lebt seit 1978 in Deutschland, seit 1981 in Mannheim. Seit drei Jahren ist Kamran Mitglied im Gesprächskreis „Christen und Muslime“ des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März 2016)
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