14. März 2016

Ganz normal!

Von nst1

Jeden Tag geht Ingrid Schiller einige Stunden zum Deutschunterricht in eine Flüchtlingsunterkunft. Vor allem aber baut sie Brücken – auch unter den Helfern.

Sie ist tatkräftig, kann zupacken und – zuhören. Sie als nüchtern zu bezeichnen, würde auf die falsche Fährte führen, dennoch kann sie Dinge beim Namen nennen, vor allem wenn es um Ungerechtigkeit geht. Sie steht mit beiden Beinen im Leben, hat aber Visionen. Eine davon ist, Beziehungen so zu gestalten, dass sie etwas von ihrem Glauben an Gott widerspiegeln. Ingrid Schiller übt sich deshalb immer neu darin, „vom anderen her zu denken“, hinzuschauen und hinzuhören, was der andere will, meint, braucht.

Ingrid Schiller. Foto: (c) Ursel Haaf

Ingrid Schiller. Foto: (c) Ursel Haaf

Empathie, ein großes Herz, Begeisterungsfähigkeit und Lebensfreude kennzeichnen die 71-Jährige, die in Düsseldorf aufwuchs und seit Jahren in Bayern lebt. Davon profitieren viele – auch die 40 Syrer, denen sie seit Juni 2015 in ihrem neuen Wohnort Augsburg jeden Tag einige Stunden widmet.
„Schon bevor ich vergangenes Frühjahr aus dem Umland nach Augsburg zog, gehörte ich zur Barfüßerkirche.“ Ingrid Schiller hatte deshalb mitbekommen, dass im ehemaligen Pfarrhaus der evangelischen Innenstadtgemeinde Flüchtlinge unterkommen sollten. In der Kirchengemeinde fanden sich Menschen, die die Neuankömmlinge beim Landen unterstützen wollten.
Ingrid Schiller hatte nun Zeit; „Warum also nicht beim Deutschlernen helfen?“ Jeden Vormittag geht sie seitdem in das Haus in der Kanalstraße, wo außer wenigen Familien vorwiegend junge Männer im Alter zwischen 20 und 30 Jahren leben. „Alle kamen über die Balkanroute aus Syrien. Keiner von ihnen sprach Deutsch und sie kannten sich vorher nicht.“

Schnell hat Ingrid Schiller begriffen: „Für sie war alles neu. Auch der Klang der Sprache. Ich hab mit Händen und Füßen gesprochen, vor allem das Konkrete für den Alltag. – Stuhl! – Tisch! – Ich heiße Ingrid. Wie heißt du?“

Selbst jetzt unterstreicht sie ihre Worte mit anschaulichen Gesten, zeigt auf die entsprechenden Gegenstände. Inzwischen sind die jungen Männer in Deutschkursen untergekommen; Ingrid betreut nur noch einige Frauen, bis auch sie einen Kurs besuchen können. Trotzdem geht die Wahl-Augsburgerin noch immer jeden Vormittag in die Flüchtlingsunterkunft. Das Mehrfamilienhaus sieht von außen noch ganz gut aus und ist auch innen einigermaßen in Schuss. Trotzdem wären für 40 Bewohner mehr sanitäre Anlagen nötig und auch die Elektroinstallation müsste überprüft werden.
Im Haus gibt es eine Küche, die alle gemeinsam nutzen – „und da passiert, was in allen Gemeinschaftsküchen dieser Welt passiert: Keiner fühlt sich fürs Aufräumen zuständig. Nach dem Motto: Wenn der nicht sauber macht, mach ich das auch nicht!“ Was dabei rauskommt, kann man sich vorstellen. „Einen Samstag haben wir mit dem Unterstützerkreis und allen Bewohnern alles auf Vordermann gebracht“, erzählt die gelernte Hauswirtschaftsmeisterin. „Nachher haben wir nur verpasst, einen Putzplan zu machen.“ Nach kurzer Zeit war die schöne Ordnung wieder dahin. Auch um das Haus herum sieht man, dass hier 40 Menschen wohnen. Vor allem mit der deutschen Mülltrennung und -entsorgung haben die Syrer ihre Schwierigkeiten. Hauptamtliche sollten im Auftrag des Sozialamtes für Ordnung sorgen, sich kümmern. „Durchaus nachvollziehbar!“ Weniger verständlich, dass sie sich nicht nach den Erfahrungen der Unterstützer erkundigten. Bei den ersten Treffen sollten die nicht dabei sein. „Sie kamen mit viel Elan und wollten die Dinge regeln; typisch deutsch halt.“ Auf die Bewohner wirkten sie Furcht einflößend. Ingrid Schiller hat über Whatsapp von einem Bewohner erfahren, dass „die Kümmerer“ am nächsten Tag wiederkommen wollten. Nach einigem Ringen, „schließlich hatten die uns praktisch ausgeladen“, nahm sie ein Deutschbuch als Vorwand und nahm an dem Meeting teil. „Die haben einen unglaublichen Ton angeschlagen und die Bewohner neu auf die Zimmer verteilt, ohne vorher nachzufragen.“ Ingrid hat sich zurückgehalten, spürte aber durch Blickwechsel mit den Bewohnern, wie diese durch ihre Anwesenheit den Mut hatten, sich zu Wort zu melden.
„Wir Unterstützer beschlossen danach, den Kontakt mit den Kümmerern zu suchen; schließlich ging es um dieselben Menschen, da konnten wir nicht gegeneinander, aber auch nicht nebeneinander her arbeiten. Zum vereinbarten Termin waren wir da, aber die kamen nicht.“ Die Unterstützer gingen; nur Ingrid war noch zum Kaffee bei einer Bewohnerin, als ein Rückruf kam. Ein Missverständnis. Die Zuständige kam eine Stunde später. „Wir waren nur zu zweit und vielleicht war das so genau richtig. Es war ein gutes Gespräch! Ich konnte sagen, wie wir das Vorgehen empfunden hatten, verstand aber auch, welchen Druck die Hauptamtlichen hatten. Aber der Ton war doch voll daneben gewesen.“ Dieses Gespräch war dann Grundlage dafür, dass alle Beteiligten sich später abstimmen konnten, „so ergänzen wir uns nun.“
Weil Ingrid Schiller jeden Tag im Haus ist, bekommt sie auch Auseinandersetzungen und Schwierigkeiten mit. Das meiste ordnet die Witwe, die einen Sohn, einen Pflegsohn und zwei Enkeltöchter hat, so ein:

„Das sind ganz normale junge Männer. Die haben viel nachzuholen und all das im Kopf, was junge Männer so im Kopf haben. Und die meisten kommen aus dem ‚Hotel Mama’ und mussten sich noch nie um etwas kümmern. Das müssen sie nun halt lernen!“

Dass sie sich inzwischen dabei untereinander helfen, freut Ingrid Schiller. „Man sieht, dass eine Gemeinschaft wächst.“ Ihre jungen Freunde sind aber „noch nicht in unserer deutschen Welt angekommen. Ihre Träume sind noch ziemlich abgehoben und müssen erst mal geerdet werden. Aber ohne eigene Erfahrung ist das alles nix!“ Deshalb haben sie keinen leichten Start, „auch wenn ihnen sehr geholfen wird! Wie etwa mit Klamotten.“ Dass sie dann aber doch in Geschäften etwas kaufen, kann Ingrid nachvollziehen: „Wenn du arm bist, willst du dir irgendwann auch mal was Eigenes kaufen und nicht alles nur aus der Kleiderkammer auftragen!“
Probleme wegen der Religionen hat Ingrid Schiller bisher nicht erlebt. „Am Anfang gab es Zurückhaltung beim Handschlag zwischen Männern und Frauen. Aber das hat sich mit den jungen Syrern schnell gegeben.“ Ein älterer Mann hat sich damit sichtlich unwohl gefühlt und es dann trotzdem getan. „Ich hab mich erinnert, dass er uns am Anfang so begrüßte (legt die Hand aufs Herz und verbeugt sich leicht). Und da hab ich angefangen, ihn auch so zu grüßen. Er strahlt mich dann an. Und mir macht es nichts aus!“
Über ihre Fluchterlebnisse sprechen die Syrer selten. „Oft zeigen sie mir Bilder von ihren Familien und den zerstörten Städten. Weil sie noch wenig Deutsch sprechen und ich kein Arabisch, ist es in solchen Situationen schwierig. Aber ich kann sie trotzdem spüren lassen, dass ich ihre Trauer teile, dass ich mitleide.“ Trotzdem hält Ingrid bewusst Distanz und „ihre Jungs“ wissen nicht, wo sie wohnt. „Sonst rücken die mir ständig auf die Pelle. Denn die Zuwendung der natürlichen Familie fehlt ihnen!“
Zum Opferfest 1) hatten die Bewohner ihre „Unterstützer“ eingeladen. Ingrid hat im Internet nach der Bedeutung des Festes geschaut und wie man sich als Gast verhält. Den Festtagswunsch „eid mubarak – gesegnetes Fest“ hat sie sich sogar auf Arabisch gemerkt. „Ich hab’s dann zwar nicht ganz korrekt ausgesprochen, aber sie haben sich riesig gefreut. Das war genau der Satz, den es brauchte!“ Zu Weihnachten haben die jungen Muslime sich dann bei Ingrid gemeldet: „Eid mubarak!“
Gabi Ballweg

1) Es ist das höchste Fest der Muslime. Sie erinnern an Abrahams Bereitschaft, seinen Sohn zu opfern.

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März 2016)
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