22. April 2016

Selbstverständliches Zusammenleben

Von nst1

Im ostafrikanischen Tansania war das Zusammenleben von Christen und Muslimen bisher von Toleranz und Zusammenarbeit geprägt. Jetzt gibt es erste radikale Tendenzen.  Eindrücke eines Besuches von Michele Zanzucchi, Direktor unserer italienischen Schwesterzeitschrift Città Nuova.

Nachdem wir Sansibar hinter uns gelassen haben, nähern wir uns Dar es Salaam. Hier muss man den Rhythmus, der durch das Klima bestimmt wird, annehmen. Ein Ventilator bedeutet Rettung. Für erste Einkäufe geht es zu Marktständen am Straßenrand: Die Regierung hatte extra ein siebenstöckiges Gebäude gebaut, um die Geschäfte dort unterzubringen, aber die Rechnung ohne die Menschen gemacht. Für sie ist die Nähe und Unmittelbarkeit der Beziehungen wichtig. So blieben die Stände, wo sie waren, und die Geschäftsräume dienen nun als Lagerstätten! Durch die Lichter der vorbeifahrenden Transportmittel leuchten die farbigen Kleider der Frauen auf. Für einen Außenstehenden lässt die Kleidung keine Rückschlüsse darauf zu, ob die Trägerin Muslimin oder Christin ist. Aber man erfährt schnell, dass Christen in Tansania reicher sind als Muslime. Einige hoffen auf die Rückkehr eines Sultans, und es ist nicht klar, ob der aus Oman oder ein anderer gemeint ist. In letzter Zeit wird man sich im Land zunehmend der Armut bewusst, nicht zuletzt durch die verbreitete Nutzung von Handys. Viele haben gelernt zu stehlen. Die „ideale“ Gesellschaft, wie sie der Landesvater Julius Nyerere anstrebte, entwickelt sich, aber nicht immer in die richtige Richtung.

Alhad M. Salum ist Scheich der Region Dar es Salaam. Er wirkt geradlinig und ruhig, scheint eine geborene Führungspersönlichkeit zu sein. Das Gespräch geht sofort über zum Thema Dialog: „Hier in Tansania gibt es einen Rat, in dem Bischöfe, Scheichs, Pastoren und Religionsführer zusammenkommen: das Friedenskomitee der religiösen Führer. Es ist eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit: Nur wenige glaubten daran, dass es gelingen würde. Viele haben sogar dagegen gearbeitet, aber wir haben es trotzdem geschafft! Und um unsere Beziehungen auf möglichst breiter Ebene bekanntzumachen, haben wir sogar Fußballspiele organisiert. Wir hatten zwei Teams, eines hieß „amani – Frieden“, das zweite „shikamano – Einheit“.

Und Frieden und Einheit sind unsere Lieblingsthemen. Aber wir sprechen auch über soziale Themen wie den hohen Alkoholkonsum, Drogen, Prostitution, Korruption. Und wir sind darüber im Dialog mit der Regierung.“

Die Bevölkerung in Tansania ist zu gleichen Teilen christlich und muslimisch. Neueste Statistiken räumen Christen inzwischen einen kleinen Vorsprung ein. Es gibt hunderttausende Misch-Ehen. „Erst in jüngster Zeit tauchen Probleme zwischen den Religionen auf“, räumt der Scheich ein. „Das liegt auch daran, dass viele Ehen nur zivil und nicht religiös geschlossen wurden. Die Eltern entscheiden, welcher Religion die Kinder angehören sollen. Da gibt es keine klaren Regeln. Und nach dem öffentlichen Recht ist es möglich, die Religionszughörigkeit zu wechseln, auch wenn das religiös natürlich nicht erwünscht ist.“

Gibt es soziale Unterschiede zwischen Christen und Muslimen? „Christen sind reicher als Muslime. So haben sie leichter Zugang zu Krediten und sind einfallsreicher, unternehmerischer, während die Entwicklung von vielen muslimischen Familien und Unternehmen durch schlechtere Bildung und eine gewisse Passivität verzögert wird. Deshalb bieten wir in den Moscheen jetzt Management-Kurse an – mit sehr guten Ergebnissen.“

Was steht es mit radikalen islamistischen Einflüssen? „In Tansania haben sich in den letzten Jahren einige sehr gefährliche salafistische und wahhabitische Gruppen gebildet. Sie lehren nicht die Grundlagen des Islam –  Liebe und Barmherzigkeit – und predigen, dass Nicht-Muslime den Tod verdienen. Wir versuchen, ihre Ausbreitung zu verhindern. Nur wenige junge Leute schließen sich ihnen an, weil die Menschen hier von Natur aus friedlich und tolerant sind.“

Was denken Sie über die Scharia? „Das islamische Recht darf nur für Muslime angewendet werden. Religion will keinen Zwang, sondern Überzeugung. In Tansania kann die Scharia nicht staatliches Recht werden.“

Gibt es eine einheitliche Politik der Muslime? „Nein, Muslime sind in verschiedenen Parteien. Ich denke, es sollte möglich sein, sich religiös verbunden zu wissen und dennoch unterschiedliche politische Meinungen zu vertreten.“

Der interreligiöse Dialog steckt in Tansania in den Kinderschuhen. Bisher bestand keine Notwendigkeit dafür. Shamim Khan ist eine Frau mit Einfluss. Sie war Ministerin und Abgeordnete, ist Anführerin der Frauenbewegung der Region. Sie hat viele humanitäre Initiativen ins Leben gerufen und ist Leiterin des Frauenflügels der Dachorganisation der Muslime Tansanias (BAKWATA). Shamim Khan engagiert sich für die Frauen ihres Landes und kämpft gegen Genitalverstümmelung und für ein gerechtes Arbeitsrecht; sie möchte NGOs 1) gründen, die von Frauen geleitet werden, und Institutionen und Verbände, die sich für die Bildung von Frauen einsetzen. Und sie scheint diejenige zu sein, die die Notwendigkeit zu einem echten interreligiösen Dialog am meisten spürt, um so radikalisierenden Tendenzen vorzubeugen. „Hier in Tansania“, erklärt sie, „ist Dialog ganz selbstverständlich. Muslime und Christen leben ganz selbstverständlich zusammen in der Familie, den Büros, den Häusern. Die Haltung ist also: Warum Dialog führen, wenn man bereits Brüder und Schwestern in Gott ist? Dennoch brauchen wir heute Orte, Plattformen, wo wir den Kräften entgegenwirken, die mehr die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten unterstreichen wollen.“

Das Zentrum von Dar es Salaam liegt rund um den Hafen. Obwohl es noch einige Gebäude aus der Kolonialzeit gibt, ist es von zwei Hochhäusern mit jeweils 39 Stockwerken gekennzeichnet; manche bezeichnen sie als die „Twin Towers“ 2) von Dar es Salaam. Zu ihren Füßen liegt die neugotische katholische St. Josephs-Kathedrale, nicht weit entfernt die protestantische und die anglikanische Kirche. Noch beeindruckender ist jedoch der Markt mit seinen Obst- und Gemüseständen und ihren intensiven Düften und Farben. Er erstreckt sich unter freiem Himmel über etwa zwanzig Häuserblöcke. Die Straßen sind Korridore und Transportwege, Bänke für die (obligatorischen!) Verhandlungen und Warenlager in einem. Man kann sich das Verkehrschaos ausmalen. Nichtsdestotrotz findet sich immer ein Weg, selbst in verworrensten Situationen. Und die Grundstimmung ist ruhig und friedlich. Auch hier wird deutlich: Der eigentliche Reichtum von Dar es Salaam sind seine Menschen mit ihrer Großherzigkeit und Ehrlichkeit.
Michele Zanzucchi

1) Nichtregierungsorganisationen, 2) Zwillingstürme

Tansania
liegt in Ostafrika, zwischen Kenia und Uganda (im Norden), Ruanda, Burundi, der Demokratischen Republik Kongo (im Westen) und Sambia, Malawi und Mosambik (im Süden). Die größte Stadt des Landes ist Dar es Salaam, Hauptstadt bis in die siebziger Jahre. Dann wurde sie von der neu geplanten Hauptstadt Dodoma im Landesinneren abgelöst. Nach wie vor befinden sich jedoch einige Regierungsbehörden in Dar es Salaam.
Der Name Tansania entstand 1964 nach der Fusion von Tanganjika auf dem Festland mit Sansibar, dem muslimischen Inselarchipel vor der Küste. Erster Präsident des Landes nach der Befreiung aus der britischen Kolonialherrschaft war Julius Nyerere. Mit seinem „partizipativen Sozialismus“ prägte er das Land.
Tansania ist zweieinhalb Mal so groß wie Deutschland. Feucht- und Trockensavannen mit Schirmakazien und Baobab-Bäumen dominieren einen Großteil der Landesfläche. Halbwüsten und Küstenebenen (zum Teil mit Mangrovensümpfen) machen die übrige Landschaft aus. Im Norden erhebt sich das höchste Bergmassiv Afrikas, das Kilimandscharo-Massiv mit dem Kibo (5895 Meter).
Die etwa 45 Millionen Einwohner gehören gut 120 ethnischen Gruppen an; Christen und Muslime machen je etwa 35 Prozent der Bevölkerung aus, fast 30 Prozent sind Anhänger der traditionellen indigenen Religionen.
Tansania gehört zu den ärmsten Ländern der Welt: Das Pro-Kopf-Einkommen lag 2014 bei 695 US-Dollar und ist eines der niedrigsten weltweit. 82 Prozent der Bevölkerung arbeitet in der Landwirtschaft. Die AIDS-Rate liegt bei fast sieben Prozent; 60 Prozent der Einwohner haben keinen Zugang zu Elektrizität und 40 keinen zu sauberem Trinkwasser. Das Land ist reich an natürlichen Rohstoffen (allen voran Gold) und hat außergewöhnliche Nationalparks.

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, April 2016)
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