Spannendes Experiment
Die Kölner Musikstudenten Nicole Lena de Terry (25) und Joachim Geibel (27) leisten mit ihrer Initiative in mehrfacher Hinsicht Pionierarbeit. Ihr „ Kölner Willkommenschor“ will zwar in erster Linie zweckfreie Begegnung auf Augenhöhe zwischen Geflüchteten und Deutschen ermöglichen, aber auch musikpädagogisch erregt er Aufsehen.
Singen verbindet Menschen. – Was für manchen platt und abgedroschen klingen mag, ist für Joachim Geibel feste Überzeugung und mit vielen Erfahrungen belegt. In Sachen Musik und Chorleitung kennt er sich aus. Der Student macht selbst begeistert Musik, singt und leitet schon seit vielen Jahren Chöre, unter anderem den der Evangelischen Studierenden Gemeinde in Köln. Warum also – so seine Überlegung schon zu Lampedusa-Zeiten – sollte das verbindende Potential der Musik nicht auch Brücken schlagen zwischen Einheimischen und Flüchtlingen? Die Idee von einem solch „gemischten Chor“ ließ Geibel nicht mehr los. Im letzten Sommer – „als die Flüchtlingswelle auch medial wieder anwuchs“ – sprach er mit einer Kommilitonin, Nicole Lena de Terry, darüber. „Und sie war sofort dabei!“
Gemeinsam machten sich die beiden Kölner Studenten Gedanken über ein musikalisches Konzept. „Aber das reichte nicht. Wir brauchten einen Raum und natürlich den Kontakt zu den Flüchtlingen.“ Auf einem Vernetzungstreffen der Kölner Flüchtlingsinitiativen stellten sie ihre Projektidee dann vor. Relativ schnell meldete sich der Jugendintegrationsdienst bei den beiden: „Wir geben Deutschkurse und wir haben einen Raum. Kommt doch zu uns!“
Schon nach wenigen Wochen, im September, fand die erste Probe statt. Jeweils Donnerstag um 17 Uhr treffen sich Interessierte dazu für eine Stunde und 15 Minuten; direkt im Anschluss an einen Deutschkurs. „So ist es für die Geflüchteten logistisch einfacher.“ Bis zu 40 Menschen kommen – zwei Drittel sind aus Afghanistan, Pakistan, Albanien und verschiedenen afrikanischen Ländern. Ein weiteres Drittel sind Kölner, mit und ohne Migrationshintergrund. Um gerade ihnen den Zugang zu erleichtern, bekam das Projekt schon bald einen neuen Namen: aus dem „Flüchtlingschor“ wurde der „Kölner Willkommenschor“. „Dass da Einheimische und Flüchtlinge zusammenkommen konnten, war uns extrem wichtig“, unterstreicht Joachim Geibel noch mal. „Denn wenn man als Kölner Kontakt aufnehmen will, geht das immer nur in der Position des Helfenden. Aber wir wollten eine Möglichkeit der Begegnung auf Augenhöhe schaffen.“
Nun trifft man sich also und singt. Was sich für den Laien relativ simpel anhört, ist dann aber doch gar nicht so ohne. Dass der Chor etwas Besonderes ist, zeigt sich für Geibel an vielem: „Zunächst mal wissen wir nie, wie viele Leute kommen.“ Der „Willkommenschor“ ist bewusst als „voraussetzungsoffenes“ und „niederschwelliges“ Projekt gestaltet: Jeder soll kommen können, der Spaß am Singen hat und auch, wer einfach mal reinschnuppern will. Denn es geht nicht in erster Linie ums Singen, sondern um die Begegnung und den Austausch.
„Es gibt keine Noten“, unterstreicht Joachim Geibel eine weitere Besonderheit des Chores. Nicole Lena de Terry und Joachim Geibel singen vor und die Chormitglieder singen nach, erst alle die erste Stimme, dann alle die zweite – und wenn das gut geht, „teilen wir einfach in zwei Gruppen ein.“ Meist beginnt die Chorstunde mit Rhythmusspielen. „Kanons eignen sich sehr gut, weil sie einstimmig zu proben sind. Es gibt keine Choraufstellung, wie wir das kennen: Sopran, Alt, Tenor, Bass.“
Die Sängerinnen und Sänger sitzen im Kreis. „Für die meisten ist alles neu. In den muslimischen Ländern, aus denen viele von ihnen kommen, gibt es keine Chorkultur, wie wir sie hier kennen. Bisweilen ist das Chorsingen sogar verpönt.“ Deshalb hat es am Anfang auch eine ganze Zeit gedauert, bis die Chormitglieder wussten, was ihre Chorleiter von ihnen wollten. „Die ersten beiden Stunden standen viele
einfach da und staunten“, erinnert sich Joachim Geibel. „So kenne ich das sonst nur aus Grundschulklassen, wenn die Kinder alles in sich aufnehmen und gar nicht merken, dass sie nicht mitsingen.“ Dass zu den Proben auch Menschen kommen, die noch nie vorher im Chor gesungen haben, „macht auch den Reiz aus, weil alle gemeinsam entdecken, was passiert“, resümiert der künftige Musiklehrer.
Interkulturelle Musikexperimente gehörten nicht zu den Zielen der beiden Projektinitiatoren. „Wir machen das, was wir können: europäische Lieder.“ Schnell wurde klar, dass die Geflüchteten vor allem Deutsch singen wollten, Kanons und Volkslieder boten sich an. Die Texte werden an die Tafel geschrieben und bei der Auswahl achten Lena De Terry und Geibel darauf, dass sie nicht zu kindlich und die Sprache nicht zu altertümlich ist. Auch sonst läuft die Verständigung auf Deutsch, mit Unterstützung von Mimik und Gestik. Und nur wenn es um ganz wichtige Details und Absprachen geht, greift die multikulturelle Chorgemeinschaft auf Übersetzungen zurück.
Und gemeinsame Auftritte? „Die sind nicht unser Ziel und auch nicht groß geplant.“ Trotzdem gab es schon welche. Den ersten in einer Flüchtlingsunterkunft könnte man noch als „Werbung in eigener Sache“ verbuchen. „Da wollten wir auf uns aufmerksam machen und andere Flüchtlinge einladen, bei uns mitzumachen.“ Ansonsten läuft die Werbung bisher vor allem über eine Facebook-Seite. „Das geht auch relativ gut“, erzählt Geibel. „Die ‚liken’ das und teilen den Link.“ Jetzt ist auch ein Flyer in verschiedenen Sprachen in der Mache, der dann in Flüchtlingsunterkünften und im Stadtteil ausgelegt werden soll. Und ein eigenes Logo hat der Chor inzwischen auch.
Der Auftritt beim Adventskonzert der Kölner Domchöre ist da schon eine andere Kategorie: „Eine Einladung, im Dom zu singen, kann man nicht abschlagen“, kommt Geibel fast ins Schwärmen. Trotzdem haben die Chorleiter das nicht allein entschieden, sondern mit den Sängerinnen und Sängern gemeinsam überlegt. Und nicht zuletzt weil es ein Benefizkonzert für die Flüchtlingshilfe in Köln war, hatte der „Willkommenschor“ dann auf großer Bühne im proppevollen Dom einen Auftritt. Der war für den Chor auch deshalb eindrucksvoll, weil „wir am Abend vorher sogar eine Extra-Führung von den Domkantoren im leeren Dom bekommen haben.“
Der „Kölner Willkommenschor“ erregt Aufmerksamkeit. Und so kommen auch weitere Anfragen für Auftritte. Zum „ACHT BRÜCKEN“-Festival 1 hat der Chor zugesagt. „Es geht um ein Stück, das extra komponiert wurde und die Flucht über das Meer zum Inhalt hat“, erläutert Joachim Geibel. „Aber wir versuchen eigentlich, weitere Auftritte vom Chor fernzuhalten. Es geht uns nicht darum, in die Öffentlichkeit zu gehen. Wir wollen kein Vorzeigeprojekt sein, wir wollen einfach nur singen.“
Das öffentliche Interesse beschränkt sich aber nicht nur auf Auftritte. „Wöchentlich ein Anruf ist fast schon normal“, berichtet Geibel. „Da wollen Leute, die über fünf Ecken etwas vom Willkommenschor gehört haben, wissen, was wir singen und wie wir das angehen.“ Und auch ihre Professoren an der Musikhochschule verfolgen interessiert, was ihre beiden Studenten da auf die Beine stellen. „Denn“, so erklärt Joachim Geibel, „es gibt natürlich viel Literatur zu heterogenen Schulklassen. Aber so wie wir das machen, ist das doch sehr neu.“ Joachim Geibel schreibt jetzt sogar seine musikpädagogische Examensarbeit über den Chor.
Die Begeisterung und ein gewisses Staunen über die musikalische Erfahrung hört man dem Chorleiter an. Aber mindestens ebenso sehr freut er sich darüber, dass das Konzept der Kontaktmöglichkeit aufzugehen scheint. „Es ist wie bei jeder anderen Chorgemeinschaft zu beobachten, wie man sich näherkommt. Waren am Anfang nach ein paar Minuten alle weg, steht man jetzt oft noch 20 Minuten im Gespräch in kleinen Gruppen beisammen. Und oft gehen die letzten erst, wenn jemand kommt, der endlich den Raum abschließen will.“ Auch von Kontakten, die über die Chorstunden hinausgehen, weiß Joachim Geibel zu berichten: Man lädt sich zum Essen ein. Eine Deutsche hat fünf Flüchtlingen Fahrräder vermittelt. An Karneval hat man Vorschläge zu Verkleidungen ausgetauscht und ist gemeinsam zu Veranstaltungen gegangen. Und von den Geflüchteten weiß Joachim Geibel, wie wichtig ihnen diese Stunde im Chor ist, in der sie einfach nur lachen, Spaß haben und nicht an die eigene Situation denken – an die Frau und die Kinder, die noch in den Heimatländern sind und deren Schicksal noch unklar ist. „Man kann sehen, wie der Gegensatz verschwindet. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass viele Kölner dabei sind, die selbst einen Migrationshintergrund haben. Das Miteinander wird immer normaler.“
Gabi Ballweg
1) „Acht Brücken | Musik für Köln“ ist der Name eines Musikfestivals in Köln, das 2011 ins Leben gerufen wurde und jährlich Anfang Mai stattfindet. www.achtbruecken.de
Infos zum Chor: www.koelnerwillkommenschor.de
(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai 2016)
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