18. November 2016

Papierkram oder Mensch?

Von nst1

Auch wenn es sie manchmal fast zerreißt, tauschen würde Brigitte Pischner nicht. Seit 21 Jahren arbeitet sie als Sozialarbeiterin in der Altenhilfe.

Es war der letzte Tag vor dem Urlaub. Der Schreibtisch war übervoll, die Anrufliste lang. Ihren Kollegen wollte Brigitte Pischner alles geordnet hinterlassen, falls die Heimaufsicht oder der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) kämen. „Dann erfuhr ich, dass es einer Bewohnerin sehr schlecht ging. Ich hatte vieles mit ihr erlebt. Über die Jahre war eine Beziehung – auch mit Höhen und Tiefen – gewachsen.“ Seit 21 Jahren ist die Sozialarbeiterin in der Altenhilfe in Augsburg tätig. Situationen wie diese kennt sie gut. „Da muss ich jedes Mal gut hinhören, wach sein, prüfen, was dran ist.“

An jenem Tag war die gebürtige Regensburgerin hin und her gerissen: Sollte sie noch alles erledigen oder doch die Bewohnerin besuchen? „Dann beschloss ich, erst die Büroarbeit fertig zu machen und dann den Besuch.“ Es war spät geworden. 21.30 Uhr. „Ich kam in den Wohnbereich, die Frau schlief und die Nachtschwester bat mich, nicht mehr rein zu gehen.“ Als Brigitte Pischner aus dem Urlaub zurückkam, war die Bewohnerin gestorben. Weder Heimaufsicht noch MDK waren gekommen, aber wie so oft die Frage: „Warum lass’ ich mich so unter Druck setzen von dem Papierkram, dass dann die Menschen hinten anstehen?“ Diesen Zwiespalt erlebt die engagierte Frau „nahezu täglich“. Natürlich gibt es die Pflicht und natürlich sind da auch die Kollegen, der Einrichtungsleiter, die Pflegedienstleitung, die Mitarbeiterinnen in der Verwaltung – „die sind auf meine Vor- und Zuarbeit angewiesen. Aber …“ Ratlos zuckt Brigitte Pischner die Schultern.

Seit zwei Jahren arbeitet sie in zwei benachbarten Heimen. In einem hatte sie vorher eine ganze Stelle; dann gab es Umstrukturierungen und eine Teilschließung, so blieben dort nur noch 48 Bewohner. Im anderen leben bis zu 130 Bewohner. Die Aufgaben der Sozialarbeiterin sind vielfältig: Aufnahme-, Beratungs- und Entlastungsgespräche, Einzelfallhilfe, Gestaltung von Festen und Veranstaltungen, Management von Beschwerden, Krisenintervention, Gewinnung und Begleitung der Ehrenamtlichen, Vernetzung der Einrichtungen mit dem Stadtteil. Die Zusammenarbeit mit den Bewohnervertretungen, den Kollegen aus anderen Berufsgruppen (Pflege, Hauswirtschaft und Küche, Verwaltung, Haustechnik) und den Ehrenamtlichen ist für die engagierte Frau sehr bereichernd. „Mich selbst erlebe ich in diesem Zusammenspiel oft als ‚Anwalt’ unserer Bewohner, immer auf der Seite des Schwächsten … Es ist mir wichtig, diese Stimme einzubringen. Aber ich lerne, dass es genauso wichtig ist, die anderen anzuhören, und wie fruchtbar unsere Arbeit dann wird.“
Den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Das heißt für Brigitte Pischner Beziehungen aufbauen. Da sein. Zuhören. Auch „Zeit verlieren“.
In ihren Häusern erlebt sie Bewohner, die mit sich und ihrer Situation sehr zufrieden und glücklich sind. Ihr begegnen aber auch Einsamkeit, Verlustängste, „Ausgeliefertsein“, das Gefühl von „nichts mehr Wert sein“. Da möchte die evangelische Christin „mithelfen, diesem Leben in seiner besonderen Phase Wert und Würde zu verleihen.“ Dabei hilft ihr die Entdeckung, dass sie „in jedem Menschen Jesus begegnen kann. Manchmal gelingt das, manchmal nicht. Aber ich erlebe, dass auch zwei Minuten reichen. Wenn sie in der Fülle sind.“ Wie mit einem inzwischen verstorbenen Bewohner: Schwer krank, im Rollstuhl, konnte er nicht mehr sprechen, war zu Zeit und Ort nicht mehr orientiert. „Immer wieder hatte ich ihn gegrüßt, mit ihm gesprochen. Sein Blick war leer. Mir war nie ganz klar, wieviel er aufnimmt. Manchmal war ich durch Mitleid wie gelähmt und hilflos. Eines Tages beim Vorbeigehen gibt er mir zu verstehen, zu kommen. Ich gehe hin, er schaut mich an und erzählt. Ich kann nichts verstehen, es sind für mich unverständliche Laute und es schmerzt, dass ich nicht teilen kann, was er mir sagen möchte. Aber ich halte es aus und dieser Moment wird zu einer tiefen Begegnung mit ihm.“

Oft ist Brigitte Pischner im Haus unterwegs. Da begegnet sie einer neuen Bewohnerin, „gestützt auf ihren Rollator, unfrisiert, irgendwie gebrochen. Man sieht, es geht ihr nicht gut. Ich grüße sie, mit dem Wunsch, ihre Not wenigstens für einen kurzen Augenblick zu teilen. Von irgendetwas getroffen schaut sie mich an und fragt: ‚Wer sind Sie, dass Sie mich so grüßen?’ Wir kommen ins Gespräch, für eine Stunde kann ich ihre tiefe Depression teilen. Als wir uns trennen, scheint sie aufrechter zu gehen, sie winkt mir nach.“ Schenken und beschenkt werden – so verbucht die unermüdliche Sozialarbeiterin das Erlebnis. Mit einem langjährigen Bewohner hatte sie vieles im Heim bewegt. „Durch ihn und mit ihm haben wir Kunstausstellungen organisiert. Dazu hätte ich selbst wohl niemals die Idee und das Know-how gehabt. Als er im Sterben lag, habe ich ihm auf seinen Wunsch ein Lied aus dem evangelischen Gesangbuch gesungen. Und obwohl ich allein wirklich schlecht singe, hatte ich den Eindruck, mit ihm zusammen für einen Moment in den Himmel schauen zu dürfen.“

Die Anfrage, auch im Nachbarhaus zu arbeiten, war schwierig für Brigitte Pischner. Es hatte nicht den besten Ruf, war alt, die Zimmer klein und ohne Nasszelle. „Hier leben auch Menschen, die früher ohne Wohnsitz waren, darunter einige ehemalige Alkohol- oder Drogenabhängige.“ Keiner wollte hin – „und ich auch nicht!“ Es war klar, dass nicht mehr umgebaut wird, weil schon ein Neubau in Planung war. Trotzdem hat sich Brigitte Pischner mit ihrem Chef eingesetzt, dass zumindest die Gänge neu gestrichen und mehr Licht eingebaut wurde: „Hier leben und sterben Menschen. Jetzt. Nicht erst in vier Jahren.“ Die Beziehungen, die die Sozialarbeiterin aufgebaut hatte, zahlten sich aus: „Eine unserer Künstlerinnen hat uns 70 wunderschöne Aquarelle geschenkt, die nun im Erdgeschoss hängen. Vier andere haben den 1. Stock gestaltet. Und im 2. Stock wurde in Zusammenarbeit mit den Stadtwerken und dem Landesamt für Denkmalschutz eine Foto-Ausstellung mit Bildern vom alten Augsburg möglich. Echte Biographie-Arbeit.“ Das Haus hat sich verändert, sagen viele. „Und das tut auch den Mitarbeitern gut.“

Inzwischen gibt es auch Feste, Konzerte, eine Bewohnervertretung und Mitarbeiter für die Heimzeitung. Viele Bewohner sind pflegebedürftig oder kommen erst in der letzten Lebensphase. Oft haben sie keine Angehörigen mehr. „Man weiß nichts von ihnen und keiner kann etwas erzählen.“ Die Fluktuation ist hoch und manchmal zerreißt es die mitfühlende Frau fast, weil sie gar nicht alle kennenlernt. Grenzen ziehen, fällt Brigitte Pischner nicht immer leicht. „Aber du kannst auch nicht ständig zehn Stunden und mehr arbeiten.“ Umso mehr freut es sie, wenn das ein oder andere Gespräch, die ein oder andere Minute mit jemandem neue Wege eröffnet und Dinge sich ineinander fügen. „Ich darf viele Menschen kennen und schätzen lernen, an ihrem Leben teilhaben, sie begleiten … für Tage, Wochen, Monate, manchmal auch über Jahre. Das erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit. Und so bin ich leidens- und liebesfähiger geworden – und mein Glaube ist gewachsen!“
Gabi Ballweg

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2016)
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