27. März 2017

Nicht jeder, der radikal ist, muss auch gefährlich sein

Von nst5

Radikalität mag erstmal abschrecken und Angst einflößen. Wenn wir an Rechtsextreme und den IS denken, ist das berechtigt. Aber es gibt noch andere Seiten.

Jemand, der konsequent seinen Überzeugungen folgt, ist radikal. Dank seiner Konsequenz und Entschiedenheit kann er die Gesellschaft verändern, Gutes bewegen, Vorbild sein. Maximilian Kolbe, Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Mutter Teresa und Nelson Mandela sind einige der bekannteren Beispiele dafür.
Was also ist radikal? Eine Zeit lang aufs Internet verzichten, das Rauchen aufgeben, das Auto stehen lassen. Gegen den Strom schwimmen, die eigene Bequemlichkeit überwinden, konsequent auf gesunde Ernährung setzen, die Umwelt schonen. Lebensentscheidungen können noch grundlegender sein: Ins Ausland gehen, einer Gemeinschaft beitreten, sich lebenslang an einen Partner binden, Priester werden, ins Kloster gehen. Auch das ist Radikalität. Radikalität, die beeindruckt, die zur Selbstverwirklichung führt, die inspiriert.
Das lateinische Radix bedeutet Wurzel; radikal heißt an die Wurzel gehend, von Grund aus, gründlich. Einen Radikalen können wir demnach als Menschen verstehen, der seine Wurzeln hat, sie kennt und bewusst aus ihnen lebt. Wir benutzen das Wort im Sinn dieser Entschiedenheit, aber eben auch von unerbittlich, extrem, einseitig, rücksichtslos bis zum Äußersten gehen. Heute bringen wir radikal schnell zusammen mit extremistisch, fundamentalistisch; denken an Leute, die populistisch und demagogisch unsere freiheitlichen Grundwerte umdeuten wollen; haben vermummte Steinewerfer, Neonazis und Islamisten vor Augen.
Selbst im Kampf für eine gute Sache können Menschen zu brutalen Methoden greifen: Unter Abtreibungsgegnern, die das Leben von Ungeborenen schützen wollen; unter Tierschützern und Umweltschützern gibt es auch jene, die für ihre Ziele so weit gehen, Andersdenkende körperlich anzugreifen. Zwischen Radikalität im Sinn eines überzeugenden Lebens, das einer ethischen Grundüberzeugung folgt, und gefährlichem Radikalismus ist der Übergang fließend.
Die Zeit der Machtergreifung Hitlers bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ist unrühmliches Beispiel für die Radikalisierung eines ganzen Volkes. Radikalismus in seiner schlimmsten Ausprägung, bis zum Krieg und zum Genozid. An der systematischen Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten war der SS-Führer Adolf Eichmann beteiligt. Hannah Arendt, jüdische Philosophin und Politikwissenschaftlerin, beobachtete als Reporterin den Prozess, der ihm 1961 in Israel gemacht wurde. Die Öffentlichkeit war entsetzt und ratlos: Wie kann ein so bürgerlich erscheinender Mensch an derart ungeheuerlichen Verbrechen mitgewirkt haben? In einem Brief schrieb Arendt 1963 an den jüdischen Gelehrten Gerschom Scholem: „Ich bin in der Tat heute der Meinung, daß das Böse immer nur extrem ist, aber niemals radikal, es hat keine Tiefe, auch keine Dämonie. … tief aber und radikal ist immer nur das Gute.“
Noch immer neigen wir dazu, Terroristen und Attentäter, die Amok laufen, die wahllos Unschuldige umbringen, aufgrund ihrer Unmenschlichkeit und Brutalität für wahnhaft und psychisch krank zu halten. Psychiater und Psychologen sehen darin den Versuch, Täter und Taten rasch einzuordnen und sie von sich fernzuhalten, weil man sich persönlich und gesellschaftlich nicht näher mit den Ursachen auseinandersetzen will. Von psychisch kranken Menschen gehe jedoch nicht mehr Gewalt aus als von anderen auch. Gutachter verweisen darauf, dass die Täter oft eine bestimmte Vorgeschichte, ein mangelndes Selbstwertgefühl haben, sich über längere Zeit ausgegrenzt, gemobbt, gedemütigt gefühlt haben. Mit Wut und Rachegefühlen entwickelt sich ein Tunnelblick; sie verschließen sich in der eigenen Welt, bis der angestaute Hass sich in einem Akt der Gewalt entlädt, durch den sie große Anerkennung oder zumindest Aufmerksamkeit erhoffen.
Eine Gesellschaft, in der Extremismus wächst, muss sich fragen, woran es liegt: Was läuft schief?
Die Globalisierung wird für viele zu einer Überforderung. Die Zusammenhänge zwischen dem, was in der Welt passiert, und was unser Leben direkt beeinflusst, sind immer schwieriger zu durchschauen. Da liegt es nahe, einfach verstehbare Erklärungsmuster zu suchen.
Das Informationsangebot ist riesig. Wie das für sich gültige auswählen? Diejenigen Nachrichten erreichen unsere Aufmerksamkeit, die sensationell sind: schrecklich, aufregend, verwerflich, beängstigend. Das fördert das Gefühl, in einer Welt zu leben, in der es den Bach runtergeht.
Entscheidungen werden in immer mehr Lebensbereichen unter wirtschaftlichen und finanziellen Kriterien gefällt. Vom Gesundheitswesen über die persönliche Freizeitgestaltung bis zur Kindererziehung wird alles nach Leistung und Effizienz bewertet. Der einzelne Mensch, die Beziehungen, die zwischenmenschliche Atmosphäre werden untergeordnet; das Wohlergehen des Einzelnen scheint niemanden wirklich zu interessieren. Er zählt nur als Bündel verwertbarer Daten oder als Konsument. Aber wo erfährt er, dass er angenommen, gewollt, anerkannt ist? Wo erlebt er, dass er für andere bedeutsam ist, dass sein Leben Sinn hat?

Je mehr wir uns in der Redaktion mit dem Thema beschäftigt haben, desto mehr ist uns klar geworden, wie weitreichend es ist. Auch wenn wir es zum Schwerpunktthema gewählt haben, werden wir auf diesen Seiten vieles nur anreißen und keine befriedigenden, abschließenden Antworten liefern können. Wir hoffen aber, dass wir Zusammenhänge aufzeigen, nachdenklich machen und Gedankenanstöße geben können!
Wir möchten Sie einladen, weiterzudenken. Uns scheint, Radikalität und Radikalismus sind Tabuthemen; weit weg, solange nicht im direkten Umfeld Bedrohliches passiert. Man redet wenig darüber in der Furcht, sich mit seinen Gedanken bloßzustellen, anzuecken, in Fettnäpfchen zu treten oder in Wespennester zu stoßen. Seien Sie mutig und sprechen Sie doch mal mit anderen über einzelne Aspekte! Tauschen Sie sich aus! Das kann uns nur weiterbringen.
Eine persönliche Frage möchten wir noch mit auf den Weg geben: Wo sind Sie radikal?

Clemens Behr

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März/April 2017)
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