17. Juli 2017

Angst, ausgenutzt zu werden

Von nst5

Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft, Selbstlosigkeit: Alles schön und gut. Aber Uneigennützigkeit muss auch ihre Grenzen haben!   Ich kenne genug Leute, die gern die ganze Hand nehmen, wenn ich ihnen den kleinen Finger reiche. Was ist, wenn sie meine Gutmütigkeit missbrauchen? Ausnutzen lasse ich mich nicht! Davor muss ich mich doch schützen. Oder?

Nina Schreiber
Psychologie-Studentin, Heidelberg
Ein negatives Gefühl ist meistens ein Warnsignal, dass wir auf dem falschen Weg sind. So auch, wenn wir uns ausgenützt fühlen. Das sollten wir ernst nehmen und uns fragen, was wir verändern können.
Eine Möglichkeit: am eigenen Verhalten arbeiten. Wenn ich der anderen Person die Bitte eigentlich nicht erfüllen möchte oder kann, sollte ich das Gespräch mit ihr suchen, versuchen, zu meinen Empfindungen zu stehen und die eigenen Bedürfnisse genauso ernst zu nehmen wie ihre. Vielleicht befürchten wir, dass dies zu Konflikten führt, doch wir dürfen eigene Wünsche und Grenzen ehrlich mitteilen und auch uns selbst gegenüber verständnisvoll sein.
Eine andere Strategie: die eigene Einstellung ändern. Es kann mir helfen, wenn ich meine Hilfeleistungen damit begründen kann, dass ich sie tun will, weil ich sie für richtig halte und mich aus Nächstenliebe für diesen Weg entscheide. Ich nehme damit die Entscheidung selbst in die Hand und lasse dabei den Gedanken los, vom anderen eine Gegenleistung zu erwarten. Wenn ich mir aktiv bewusst mache, dass es meine eigene, aus freiem Willen getroffene Entscheidung ist, kann ich aus dem Gefühl des Ausgenutztseins heraustreten und die Situation zum Besseren gestalten.

Ulrike Comes
Lehrerin an einer Gesamtschule, Solingen
In der Schule ist es mein Auftrag, die Kids zu Selbstständigkeit und Eigenverantwortung zu erziehen. Sie haben eine Antenne, welcher Lehrer bereit ist, sie zu unterstützen, und fordern das auch gerne ein. Oft kann ich ihnen wirklich helfen, indem ich sie bei der Hand nehme, ihnen enge Grenzen setze, Spielraum wegnehme. Langfristig aber sollte ich sie freilassen, auch mal Misserfolge zu fabrizieren, damit sie sich mit den Konsequenzen ihres Tuns auseinandersetzen. Zum Beispiel müssen sie lernen, dass ihre Weigerung, Aufgaben zu machen, sehr unbequeme Konsequenzen hat. Aber Vorsicht: Meine „Härte“ darf nicht Ausdruck von Hilflosigkeit oder Enttäuschung sein, weil sie meine tollen Hilfen ignorieren. Es geht nicht um mich.
Wenn das gelingt, empfinden die Kids diese konsequente Haltung als Liebe. Die Kunst ist, von ihnen zu fordern, was sie können (oder könnten), und nur die wirklich notwendige Unterstützung anzubieten.
Und: Ich muss meine Rolle akzeptieren! Ich bin Lehrerin, nicht Sozialarbeiterin, Familienfürsorgerin, Drogenberaterin, Ersatzmutter. All diese Rollen muss ich für Augenblicke ausfüllen, aber dann wieder abgeben. Ich muss meine Grenzen erkennen, akzeptieren und sie auch den anderen zumuten.

Jörg Schlüter
Evangelisch-lutherischer Pastor i.R., Vechta
Hilfsbereitschaft, Nächstenliebe: Ja! Ausgenutzt werden: Nein. Dazwischen eine Grenze zu ziehen, ist nicht immer einfach.
Was erzählt das Neue Testament über Jesu Liebe zum Mitmenschen? Er hat geheilt, Hunger gestillt, getröstet. Aber er hat sich auch zurückgezogen, um die Beziehung zu seinem himmlischen Vater zu pflegen. Er ist eingeladen worden, hat gefeiert und gelacht. Jesus war nicht pausenlos „im Einsatz zur Nächstenliebe“, sondern hat auch getan, was seiner Seele guttat.
Wir sprechen vom Doppelgebot der Liebe. Müsste es nicht Dreifachgebot heißen? Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst. Das meint nicht Egoismus. Eigenliebe hat auch mit Selbstakzeptanz und Einschätzung der eigenen Kräfte zu tun. Wenn sie am Ende sind, sollte ich eine Pause einlegen, um neue Kräfte zu sammeln.
Ich denke an Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Freiheit heißt nicht, an nichts mehr gebunden zu sein. Luther verstand sie als Freiheit vom Egoismus – hin zur Freiheit, dem anderen zu dienen. Das Ich bleibt ich und geht dennoch im anderen auf.

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(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2017)
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