30. November 2017

Von offenen Türen

Von nst5

Unser Leben ist voller Möglichkeiten. Dass sie wählen können, begeistert die einen und wird anderen zur Last.

Hirnforscher sagen: Täglich treffen wir rund 20 000 Entscheidungen. Die meisten davon blitzschnell und unbewusst, ob wir aufstehen oder noch einen Moment liegenbleiben etwa. Manchmal ist dann schon die, was wir anziehen, sehr viel mühsamer. Unser Tag, aber auch unser Lebensweg ist von Entscheidungen gepflastert. Es gibt große und kleine, leichte und schwere. Manche – sehr wenige! – betreffen nur uns selbst, die meisten haben Auswirkungen auf andere – Familie, Freunde, Kollegen, Arbeitsplätze, Gemeinschaften, das Klima und die nachfolgenden Generationen. Auf manche Situationen kann man sich vorbereiten, die damit zusammenhängenden Entscheidungen gut abwägen, wie beim Übergang in die Rente. Andere Entscheidungssituationen kommen unvermutet, durch Arbeitsplatzverlust, Krankheit, Tod.
Grundsätzlich gilt: Wir haben gern die Wahl. Wir wählen zwischen Parteien, zwischen Partnern, zwischen Berufen. Wir überlegen, ob wir Kinder haben wollen oder nicht. Wir suchen uns unsere Freunde aus, unseren Kleidungsstil, unseren Urlaubsort. Wählen zu können, gibt uns ein Gefühl von Freiheit, das Gefühl, unser Leben in der Hand zu haben.
Andererseits stöhnen wir über die „Qual der Wahl“. Wer einen neuen Fernseher sucht, muss Stunden damit verbringen, sich in die technischen Details einzulesen und Preise zu vergleichen. Je größer die Auswahl, desto schwieriger wird es, das „perfekte“ Gerät zu finden. Erst recht für „Maximierer“. So nennen Psychologen Menschen, die versuchen, bei jeder Wahl die absolut beste Lösung zu erzielen. Selbst nach einer kaum rückgängig zu machenden Entscheidung zweifeln sie noch und halten Ausschau nach Indizien, dass sie noch etwas Besseres hätten finden können. Anders die sogenannten „Satisficer“ (von englisch: „satisfy“, zufriedenstellen), die bei einer Wahl vor allem darauf achten, dass ihre Ansprüche erfüllt werden. Sie wählen nach dem Kriterium „gut genug“ statt „nur das Beste“ und leben damit erheblich zufriedener.
Entscheidungen kosten Zeit, Aufmerksamkeit und Kraft. Das sind begrenzte Ressourcen im Leben. Aber die „Qual der Wahl“ ist wohl vor allem ein Problem von Wohlstandsgesellschaften, „Multiple-Choice-Gesellschaften“. Nur wer viele Optionen hat, kann entscheiden. Wem alles vorgegeben ist, der muss die Dinge nehmen, wie sie kommen. Mehr Wahlmöglichkeiten, mehr Freiheit? Wissenschaftler geben zu bedenken, dass wir unsere Freiheit dabei in der Regel überschätzen und uns geradezu lächerlich leicht manipulieren lassen – nicht nur bei Kaufentscheidungen.
Jede Wahl ist ein Verzicht. Mit der Entscheidung für etwas verzichten wir auf anderes. Psychologen sprechen von „Opportunitäts-“ oder „Alternativkosten“: Wenn sich herausstellt, dass die Pasta doch besser gewesen wäre als die Pizza. „Je stärker wir die Opportunitätskosten spüren, desto geringer die Befriedigung, mit der uns die gewählte Alternative erfüllt“, erklärt der amerikanische Psychologe Barry Schwartz. Er meint, dass die Evolution den Menschen nicht gerade gut darauf vorbereitet hat, sinnvoll aus einer großen Vielfalt auszuwählen. Jahrtausende lang lebten unsere Vorfahren in einer Welt des Mangels – jeder musste nehmen, was er kriegen konnte, um zu überleben. „Wenn wir heranwachsen, lernen wir alle, dass das Leben von uns verlangt, Entscheidungen zu treffen und auf Chancen zu verzichten“, sagt Schwartz. „Zu wählen lernen ist schwer. Gut zu wählen noch schwerer. Und gut zu wählen in einer Welt unbegrenzter Möglichkeiten ist ungeheuer schwer, vielleicht sogar zu schwer.“
Ob wir deshalb häufig versuchen, uns die Möglichkeiten offenzuhalten? Der amerikanische Psychologe Dan Ariely entwarf eine Versuchsanordnung, bei der die Teilnehmer seines Experiments beschließen mussten, ob sie mehrere Türen offen lassen oder sich für eine Tür entscheiden wollten. Mehr Punkte gab es, wenn sie eindeutig entschieden. Dazu konnten sie sich nicht durchringen. „Wir müssen anfangen, bewusst einige unserer Türen zu schließen“, sagte Ariely, „weil sie Energie und Engagement von den Türen abziehen, die offen bleiben sollten.“
Jede Wahl hat Konsequenzen. Wahlfreiheit gibt es nur im Doppelpack mit Verantwortung. Und wer entscheidet, macht sich angreifbar. Auch deshalb stehen wir unter dem Druck, uns richtig zu entscheiden. In der Arbeitswelt gelten risikofreudige Entscheidertypen als erfolgreicher. Wer sich mit Entscheidungen schwer tut, „über den wird entschieden.“ Aber Entscheidungen machen müde, powern aus. Entscheider sind oft burnout-gefährdet; gesunder Ausgleich ist notwendiger denn je.
Aber was, wenn man tatsächlich einmal falsch liegt? Schiedsrichter müssen viel und schnell entscheiden. Sie lernen in ihrer Ausbildung auch, mit Fehlentscheidungen umzugehen. Zusammenfassen könnte man das so: dazu stehen, sich entschuldigen und die Situation noch mal „anschauen“. Denn: Auch wenn sich Entscheidungen später als falsch herausstellen, gibt es in dem Moment, in dem wir sie treffen, häufig gute Gründe dafür. Im Extremfall ist ein Fehler ein Lernbaustein für weitere Entscheidungen, sagen Psychologen, und dass wir von Natur aus über einen Schutzschild, ein „psychisches Immunsystem“, verfügen, das uns das Leben nach einer Fehlentscheidung leichter machen kann. Das Einzige, womit es kaum fertig wird, ist das Gefühl, eine Chance verpasst zu haben: Keine Entscheidung bereuen wir mehr als die, nichts getan zu haben.
Wer anfängt zu suchen, findet unzählige Tipps zum „guten Entscheiden“. Angefangen vom Würfeln über das Meditieren, Pro-und-Contra-Listen, Faustregeln bis hin zu Seminaren. Es fällt auf, dass vieles mit „anderen Blickwinkeln“ zu tun hat  und mit dem Versuch, zu einer „Leichtigkeit“ zu finden. Gesundes Selbstvertrauen, die Tatsache, sich nicht ständig selbst beweisen zu müssen und das Wissen, selbst bei Fehlern von anderen getragen, akzeptiert und sogar geliebt zu werden, zählen zu den größten Pluspunkten. Glücklich, wer da auch noch aus dem Bewusstsein leben kann, nicht alles selbst schaffen zu müssen und sich sogar noch in der Hand dessen weiß, der auch auf krummen Zeilen gerade schreiben kann.
Gabi Ballweg

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November/Dezember 2017)
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