25. Januar 2018

Hundert Jahre unabhängig

Von nst5

Offener Brief an Sauli Niinistö

Sehr geehrter Herr Präsident,

leider wusste ich bisher nicht sehr viel über Ihr Land. „Land der Tausend Seen“, die Läuferlegende Paavo Nurmi, Eishockey, Sauna und Nokia: Mehr fiel mir zu Finnland kaum ein. So war ich überrascht zu erfahren, dass „Suomi“ 2017 seinen hundertsten Geburtstag gefeiert hat – mit dem Höhepunkt der Feierlichkeiten am 6. Dezember.

Sechshundert Jahre gehörte es zu Schweden. Von den Russen erobert, wurde es 1809 Teil des Zarenreiches. Kurz darauf war nicht mehr Turku, sondern Helsinki die Hauptstadt. 1917 erklärte Ihr Land in den unruhigen Zeiten der russischen Revolution seine Unabhängigkeit. Eine erlittene Errungenschaft, derer Sie zu Recht gedenken!

Ein Blick in die Geschichte zeigt: Das junge Finnland hatte keinen leichten Start. Gleich nach der Unabhängigkeit entbrannte ein Bürgerkrieg. Der Zweite Weltkrieg hinterließ seine Spuren. Zur Zeit des Kalten Krieges saß Ihr Land zwischen den Stühlen. Um seine Souveränität besorgt und um Neutralität bemüht, musste es jedoch immer wieder Rücksicht auf seinen großen Nachbarn und ehemaligen Besatzer nehmen: 1 300 Kilometer lang ist die Staatsgrenze zu Russland. In letzter Zeit hatte Ihr Volk mit dem Rückgang der Holzindustrie und dem Einbrechen des riesigen Handy-Unternehmens Nokia zu kämpfen, wovon sich die Wirtschaft jedoch langsam wieder erholt.

Finnland war im 19. Jahrhundert ein armes Land. Als maßgeblichen Schlüssel zu seiner wirtschaftlichen Entwicklung hat es von Beginn an auf Bildung gesetzt. Schule, Bildung, Erziehung: In diesem Bereich gilt Finnland als Vorreiter. Wenn wir genauer hinschauen, erahnen wir, warum finnische Schüler im internationalen Vergleich immer wieder Spitzenplätze belegen: Die Schulklassen sind kleiner als in vielen anderen Ländern; die Lehrer haben mehr Zeit, auf die Kinder einzugehen; sie haben mehr Spielraum bei der Gestaltung des Unterrichts. Der Leistungsgedanke spielt eine geringere Rolle; es wird stärker auf die Bedürfnisse der Kinder geachtet; ihr sozialer Hintergrund hat weniger Einfluss auf ihren Bildungsweg. Es wird mehr Wert auf ganzheitliches Lernen gelegt. Dazu gehört, dass Musik, Kunst, Sport eine große Bedeutung beigemessen wird. Selbst das Spielen hat Platz im Schulalltag. Das gemeinschaftliche Lernen wird groß geschrieben; auch die Lehrer selbst arbeiten stärker im Team. Kein Wunder, dass Pädagogen und Politiker in Ihr Land pilgern auf der Suche nach Anregungen, um das eigene Bildungswesen zu verbessern!

Finnische Väter verbringen mehr Zeit mit ihren Kindern im Schulalter als die Mütter. Eine Nachricht, die aufhorchen lässt. Nicht nur deshalb lohnt es sich, auch Ihre Familienpolitik einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.
Finnland ist friedfertig, verlässlich, stabil. Demokratie, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung sind Werte, für die Finnland steht und mit denen es einen großen Erfahrungsschatz hat. Immer wieder hat es sich mit seinem Einsatz für Frieden und Verständigung in Europa hervorgetan. Daher ist es höchste Zeit, um den Finnen für ihren vielfältigen Beitrag zum Wohl der Völkergemeinschaft Dank zu sagen! Und ihnen alles Gute zu wünschen: Auf die nächsten hundert Jahre!
Mit freundlichen Grüßen,

Clemens Behr,
Redaktion NEUE STADT

Sauli Niinistö
ist seit 2012 der zwölfte Präsident der Republik Finnland. Zuvor war der heute 69-Jährige unter anderem Parlamentspräsident und stellvertretender Ministerpräsident seines Landes sowie Vizepräsident der Europäischen Investitionsbank.
Finnland hat mit 338 000 km2 nahezu die Größe Deutschlands, ist mit 5,5 Millionen Einwohnern aber dünn besiedelt. Seit 1995 ist es Mitglied der Europäischen Union.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2018)
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