23. Mai 2018

Nie fit genug?

Von nst5

Der Mensch ist zu Verbesserung fähig. Ein Glück. Aber nur, wenn das Streben danach nicht Selbstzweck wird.

Wir Menschen haben das Streben, besser zu werden, in uns. Noch schöner, noch fitter, noch klüger. Uns verbessern und weiterentwickeln gehört zu unserem Wesen. Dass wir es dabei manchmal auf die Spitze treiben wohl auch. Gesund, in Form und leistungsfähig wollen wir sein – immer und überall! Effektiv und optimal organisiert – nicht nur in der Arbeit, auch die Freizeit wird durchgestylt. Jung, dynamisch und gesund – am besten bis ins allerhöchste Alter. Probleme? Nein, natürlich nicht! Und wenn doch? Sicher gibt es dann irgendwo das optimale Mittelchen oder eine entsprechende Behandlung! Mobile, flexible Allroundtalente, die sich durch nichts aus dem Tritt bringen lassen und immer schon das nächste Ziel anstreben. Der makellose Körper, die perfekte Entspannung und die vollkommene Altersvorsorge. Das individuelle Powergetränk, der Schrittzähler und die zugehörige Fitness-App. Ganz zu schweigen von der 100-prozentig wirksamen Anti-Faltencreme, dem jugendlichen Outfit und der vitalen Haarfarbe. Jugendlichkeit und Fitness locken uns – wie die nie erreichbare Möhre den Esel.
Klar, wie so vieles hat auch der Wunsch nach Jugendlichkeit und Fitness zwei Seiten. Dank des medizinischen Fortschritts und besserer Lebensbedingungen sind Sechzig- und Siebzigjährige heute in der Regel gesünder als frühere Generationen, sehen deutlich jünger aus als ihre Eltern und Großeltern im gleichen Alter und haben noch eine um viele Jahre höhere Lebenserwartung vor sich. Die Verantwortung für den eigenen Körper und seine Gesundheit ist nicht nur wegen der sonst damit verbundenen hohen Kosten ein Gebot der Stunde. Das Leben ist ein Geschenk. Es will bewahrt und geschützt werden. Dass wir dafür – im besten Sinn – Sorge tragen, stellt keiner infrage.
Viele vermessen ihr Leben, um immer besser zu funktionieren. Und Anleitungen dafür, ihm das Maximum abtrotzen zu können, füllen nicht nur Regale, sondern auch endlose Werbeminuten. Schon längst sind die Grenzen zwischen Beruf und Freizeit verschwommen. Wir haben unsere Körper, unsere Beziehungen und unsere Persönlichkeit den Regeln der Ökonomie unterworfen: Effizienz, Berechenbarkeit und Profitmaximierung. Meist machen wir uns das nicht bewusst, aber sie herrschen überall, auch da wo sie nicht unbedingt hingehören: auf der Geburtstagsparty, in der Beziehungspflege, sogar im Urlaub.
Ein solches Denken zeigt Auswirkungen auf vielen Ebenen. Nicht zuletzt im Kampf um einen alterslosen Körper und im Druck, bis ins hohe Alter aktiv zu bleiben. Es scheint, als reichten gesunde Ernährung, mäßiger Sport, geistige Interessen und die Pflege von Freundschaften nicht mehr aus. Aber diese neuen Maßstäbe zeichnen ein Bild, dem längst nicht alle Menschen jenseits der Sechzig entsprechen oder entsprechen wollen. Manche sind froh, wenn sie nicht mehr unter Leistungsdruck stehen, trauen sich aber kaum, das einzugestehen. Und was für die ältere Generation gilt, hat auch Auswirkungen auf die Jüngeren. Wenn schon ihre Großeltern und Eltern noch fit, aktiv und rundum optimiert daherkommen, wie sollen sie sich da zurücklehnen? Wer sich als junger Mensch dem allgemeinen Optimierungsdenken entzieht, muss schon sehr gute Argumente haben. Natürlich gibt es auch bewusste Aussteiger. „Weniger ist mehr!“ bezeichnet eine Haltung, die sich nicht mehr nur auf das Materielle beschränkt, sondern immer öfter auch gegen übertriebenen Effizienz- und Leistungsanspruch eine Grenze ziehen möchte.
Auch wenn Leistungs- und Optimierungsdenken sich schleichend in allen Bereichen menschlichen Lebens breitgemacht haben und in der Mehrheit schweigend (also zustimmend?) geduldet werden: Die Fragen, die sich damit auftun, bleiben. Und sie nagen an den Menschen. So geht mit übertriebenem Optimierungsdenken oft – bewusst oder unbewusst – ein enormer Perfektionsanspruch einher. Der macht vielen das Leben schwer. Welche Erleichterung für die, die da im Alltag, in Beziehungen oder gar in der Arbeitswelt erfahren, dass man nicht alles perfekt machen muss, damit das Leben einen Sinn hat. Denn Selbstverbesserung ist eines; problematisch wird sie, wenn man den Bezug zu sich selbst und zu anderen verliert, wenn Normen, Werte und Zahlen wichtiger werden als alles andere, eine Eigendynamik entwickeln und zum alleinigen Antrieb werden. Ein Kartenhaus, das absehbar in sich zusammenfallen muss. Nicht nur steigende Zahlen von Burnout-Erkrankungen in allen Altersgruppen und Schichten sind Anzeichen dafür.
Und birgt das Optimierungsdenken nicht auch diese Gefahr: Wer denkt, er allein sei verantwortlich für seine Gesundheit, müsse alles selbst im Griff haben – wie kommt der mit Krankheit, Schicksalsschlägen, Unfällen klar? Muss er daran nicht verzweifeln? Wer sich zu lang und zu einseitig um sich, seine Werte und sein Wohlbefinden müht, steht allein da, wenn er Hilfe, Freunde braucht. Noch eine Frage drängt sich da auf: Jagt unsere optimierte Gesellschaft nicht letztlich danach, Schwäche, Alter und Krankheit zu überwinden? In der modernen Gesellschaft sind sie verpönt. Trotzdem gehören sie zum Leben. Die Fixierung auf Attraktivität und Vitalität lässt weder Zeit noch Raum für Gedanken über die Vergänglichkeit. Immer weniger Menschen glauben an ein Weiterleben im Jenseits und klammern sich an das, was sie im Diesseits haben: an ihren Körper. Der soll sich nicht verändern, nicht hinfällig werden, nicht an das unausweichliche Ende erinnern. Psychologen meinen, Jugend- und Gesundheitskult, Schönheitswahn und übertriebener Lebenshunger verraten die Angst der Gesellschaft vor dem Tod. Der erscheint als lebensfeindliches Prinzip, nicht als Bestandteil des Lebens. Die meisten Menschen sterben heute in Krankenhäusern, Altenheimen oder Hospizen, aber nicht mitten unter uns. Alte, Pflegebedürftige und Sterbende zerstören die Illusion von der Allmacht moderner Menschen. Der Tod holt alle auf den Boden der Tatsachen zurück. Er demaskiert den Mythos ewiger Jugend und Gesundheit, denn er trifft jeden. Unser Leben – und wir – sind begrenzt!

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2018)
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