24. Mai 2018

Vertreten Sie alle Ungarn!

Von nst5

Offener Brief an Viktor Orbán

Sehr geehrter Herr Orbán,

wie manche westeuropäischen Politiker über ungarische Politik sprechen, grenzt an Hochmut und Bevormundung. Wie westliche Medien über Ungarn berichten, ist oft einseitig. Das ist Ihr Eindruck, und er ist zum Teil berechtigt. Dennoch: Jede Kritik als Angriff auf die ungarische Souveränität auszulegen, zeugt nicht von souveränem Umgang mit Andersdenkenden. Sie wenden sie so, dass Sie den Ungarn das Gefühl vermitteln, Opfer zu sein, bedroht zu werden, inszenieren sich selbst als Beschützer und Bewahrer.

In Ihrer ersten Regierungszeit haben Sie auf Familien und Jugend gesetzt, in Bildung investiert! Zwischen 2010 und 2017 ist die Staatsverschuldung von über 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts unter 73 Prozent, die Arbeitslosenquote von über elf unter fünf Prozent gesunken: Darauf können Sie stolz sein! Aktuell stehen Bildungs- und Gesundheitssystem leider nicht mehr so rosig da.

Sie haben einen erstaunlichen Wandel durchlaufen: Als junger Politiker liberal, vertreten Sie heute eine „illiberale Demokratie“. Die Mündigkeit der Bürger, für die Sie einst vehement kämpften, haben Sie nach und nach wieder beschnitten, haben die Macht zentralisiert, Rechte regionaler Selbstverwaltung eingeschränkt, die Verfassung geändert, Ihre Unterstützer mit Privilegien und Geldzuwendungen gestärkt. Und vor den Wahlen Geschenke verteilt: Lebensmittelgutscheine an Rentner über 10 000 Forint – etwa 30 Euro 1, Zuschüsse für Heizkosten an jeden Haushalt.

Sie sind demokratisch gewählt, ja. Aber was demokratisch ist, haben Sie bestimmt. Dazu zählt ein Wahlrecht, das die stimmstärkste Fraktion begünstigt. Dazu zählt, dass nicht alle Parteien die gleichen Chancen hatten, Wahlwerbung zu machen; dass Sie Medien und Justiz weitgehend auf Linie gebracht haben. Wer regierungskritisch berichtet, bekommt weniger Informationen, muss eine höhere Werbesteuer zahlen oder wird anderweitig schikaniert.

Brandgefährlich finde ich die fremden- und europafeindliche Rhetorik. Sie wettern gegen Brüssel, nehmen aber gern jährlich Milliarden Euro aus dem EU-Finanzausgleich an. Die verbessern die Wirtschaftsdaten des Landes. Seit Jahren präsentieren Sie den US-amerikanischen Milliardär George Soros als Kopf einer globalen Verschwörung, die eine Masseneinwanderung von Muslimen nach Europa organisiert. Wahlplakate haben Oppositionspolitiker mit ihm in Verbindung gebracht. Das Ergebnis von all dem: ein Klima von Angst und Misstrauen, tiefe Risse in der Gesellschaft, die sich zu Spaltungen und Konfrontationen auszuweiten drohen. Lassen Sie es nicht so weit kommen!

Sie haben Kritiker gewarnt, dass Sie nach der Wahl „Genugtuung verlangen“. Schon hat die regierungsnahe Wochenzeitung Figyelő zweihundert Wissenschaftler, Journalisten und Menschenrechtler, die angeblich für Soros arbeiten, an den Pranger gestellt. Schüren Sie nicht Hetze und Hass! Unterteilen Sie Ihre Bürger nicht in Freund und Feind. Sie sind schließlich Ministerpräsident aller Ungarn. Auch jener, die sich für Flüchtlinge einsetzen. Auch jener jungen Leute, die ihr Land aus Frust verlassen. Auch jener, die nach der Wahl auf die Straße gegangen sind.
Mit freundlichen Grüßen,

Clemens Behr,
Redaktion NEUE STADT

1 Bei einer durchschnittlichen Rente unter 300 Euro

Viktor Orbán
geboren 1963, von 1998-2002 und seit 2010 Ministerpräsident von Ungarn. Am 8. April wurde er mit seiner Parteienallianz von Fidesz und KDNP mit rund 49,9 Prozent der Stimmen und 91 von 106 Direktmandaten wiedergewählt. Die Allianz hat damit 134 von 199 Sitzen im ungarischen Parlament. Die Zweidrittelmehrheit ermöglicht Orbán, die Verfassung zu ändern.

Ungarn ist mit 93 000 Quadratkilometern etwas größer als Österreich und hat fast 10 Millionen Einwohner.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2018)
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