23. Mai 2018

Wenn Optimieren zur Norm wird.

Von nst5

Die Aufforderung „ besser, gesünder, fitter“ kommt uns auf allen Kanälen entgegen. Wie es dazu kommt und was das mit uns macht, erklärt die Soziologin Diana Lindner aus Jena.

Frau Lindner, viele Zeitgenossen jagen ihren optimalen Werten nach. Besser, fitter, gesünder wird zum Maß der Dinge. Woher kommt das und was macht diese Jagd mit uns?
Anregungen, auf Gesundheit, Körper und Fitness zu achten, sind tatsächlich weit verbreitet. Sich bewegen, auf sich achten, schauen, was man für sich tun kann, ist prinzipiell nichts Schlechtes. Dass diese Anregungen aber in ihrer Menge so extrem zugenommen haben, erzeugt Druck. Es verunsichert. Viele denken immer häufiger darüber nach, was sie noch besser machen können und worum sie sich noch stärker kümmern sollten. Das kann richtiggehend Stress machen. So sehr, dass man nicht mehr nach dem fragt, worum es eigentlich geht: Was möchte ich in meinem Leben erreichen; was ist für mich Erfolg, was Glück? Dass man sich Fragen der Verbesserung nur stellt, wenn sie von außen angeregt werden, ist problematisch.

Beim Optimieren steigen die einen voll ein: messen, zählen, vergleichen. Andere wehren sich gegen das Gefühl, immer noch besser werden zu müssen. Scheiden sich da die Geister?
Da würde ich unterscheiden. Die ganz allgemeinen Optimierungsanforderungen bekommt jeder täglich mit – etwa durch Medien oder Ratgeber, wenn es heißt: „Informiert euch besser!“, „Kümmert euch mehr um die Kinder und die Gesundheit!“ Das ist ein gesellschaftlicher Druck, dem wir alle mehr oder weniger ausgesetzt sind. Und dann gibt es immer mehr freiwillige Selbstoptimierer, die mithilfe von Technik, z.B. Apps, ihre Körperfunktionen, ihren Kalorienverbrauch, ihre Herzfrequenz messen. Warum Menschen das aufgreifen, liegt sicher auch daran, ob sie eine Vorliebe für Technik haben und inwieweit sie versuchen, ihr Leben durch Datensammlung und Selbstüberwachung in den Griff zu bekommen. Das Messen liefert Daten und die kann man veröffentlichen, hochladen. So kann man sich mit anderen vergleichen und lernt etwas über sich. Man stellt dann vielleicht fest:„Okay, im Vergleich mit anderen in meinem Alter bin ich doch relativ fit.“ Oder: „Ich bin nicht fit und muss mich richtig anstrengen, um in den Normalbereich zu kommen.“ Je nachdem wie stark man diese Art der Optimierung verfolgt, nimmt es umso mehr Raum im Leben ein, erzeugt wiederum Stress und raubt einem Zeit für andere Dinge.

Ist es also eine Typsache, wie man damit umgeht?
Richtig. Die, die auf Technik abfahren, schauen sich gern an, was entwickelt wurde, was Fitnessarmbänder alles können, probieren aus. Manche stellen schnell fest, dass das nichts für sie ist. Aber andere glauben daran, mit der Technik ihr Leben, ihren Körper, ihre Gesundheit in den Griff zu bekommen.

Zieht sich der Verbesserungsdruck insgesamt durch alle Altersgruppen und sozialen Schichten?
Wir haben in einer größeren Onlinebefragung tausend Personen befragt, allerdings den Fokus auf die 25- bis 40-Jährigen gelegt. Das Gefühl, immer noch etwas an sich verbessern zu müssen, ist bei allen gleich stark ausgeprägt. Auch bei Männern und Frauen ist er gleich verteilt. Allerdings haben wir einen Unterschied gefunden zwischen „Eltern“ und „nicht Eltern“. Eltern empfinden einen stärkeren Druck, dass sie z.B. ihre Zeit noch besser organisieren oder noch mehr an ihren Zielen arbeiten müssen. Dasselbe gilt auch bei Menschen in prekären Lebensverhältnissen. Auch sie haben ständig das Gefühl, dass sie noch mehr machen müssen.
Interessant war auch, dass es bei den 25- bis 30-Jährigen einen relativ hohen Perfektionsanspruch gibt. Die wollen das Beste aus sich herausholen, zu den Besten gehören. Wenn man ein bisschen älter ist, ist man da etwas entspannter. Gleichzeitig ist nur bei einem Fünftel ein starkes Überforderungsgefühl vorhanden. Die meisten sagen, dass sie die gestellten Anforderungen gut bewältigen können. Allerdings geht es immer auf Kosten der sozialen Beziehungen: Wenn man viel für sich selbst tut oder tun muss, schneidet man das bei der Zeit ab, die man mit Freunden oder der Familie verbringt.

Ist das Streben, besser und fitter zu werden, eine Folge von Leistung, Wettbewerb, Effektivität?
Man muss das sicher im Spiegel einer bestimmten Kultur sehen. Und wir leben in einer extremen Leistungsgesellschaft. Allerdings steht heute das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit zunehmend infrage. Viele glauben nicht mehr daran, dass sich Leistung im Beruf wirklich lohnt. Da ist Frust entstanden. Und weil man im Beruf nicht mehr so viel gestalten kann, konzentriert man sich auf den privaten Bereich, läuft den Marathon, macht die Extremsportarten oder das Muskeltraining. Das alles hat tatsächlich zugenommen. Denn die Fähigkeit, über sich hinauszuwachsen, besser zu werden, steckt im Menschen und will raus. Wenn wir sie nicht hätten, säßen wir immer noch in den Bäumen.
Soziologen beschreiben zudem schon länger, dass die Denkmodelle aus der Arbeitswelt auch aufs Privatleben übertragen wurden: Auch das Leben soll systematisch geplant, die Lebensziele überwacht, Kosten und Nutzen auch in der Freizeit abgewogen werden. Bisher ging man aber nicht davon aus, dass die Übertragung ins Private sozusagen aus Frust darüber entsteht, dass man dort nicht mehr genügend Gestaltungsmöglichkeiten hat. Das scheint jedoch plausibel, müsste aber besser erforscht werden. Sicher ist, dass der Drang nach Selbstoptimierung mit der eigenen Biografie zu tun hat, je nachdem wo und wie man aufgewachsen ist und in welchem beruflichen Kontext man sich bewegt.

Wie bei vielem kommt es wohl auch da auf das rechte Maß an, oder?
Genau. Schwierig ist, wenn man es nicht mehr aus Neugierde macht oder weil man wissen will, was in einem steckt und dann das Spielerische verlorengeht. Wenn man versucht, alles im Griff zu haben und nichts von seiner Energie unnütz zu verschwenden, bekommt es leicht etwas Verbissenes. Und wenn man sich die Einzelfälle anschaut, haben die Menschen oft Angst. Sie sind übererfüllend, weil sie denken, dass sie ihren Job oder die Partner verlieren oder die Kinder es ihnen nie danken. Das ist im Einzelfall nachvollziehbar. Aber in der Masse wirkt es dann hysterisch.

Und macht wieder Druck auf alle anderen.
Genau. Das nennt man auch eine „Normalisierungswelle“. Wer nicht optimiert, hat dann mehr Erklärungsnot als die, die sich den ganzen Tag darum kümmern. Das kann man am Beispiel von Krankheit beobachten. Früher ging es darum, wieder gesund zu werden, wenn man krank war. Heute soll man Krankheit abwehren. An diesen Prozessen sind auch Krankenkassen beteiligt, die darauf hinwirken, dass wir immer mehr unternehmen, um gar nicht erst krank zu werden – weil Behandlung Geld kostet und man Kosten reduzieren will.
Oder: Die Lebenserwartung steigt und Krankenkassen haben Interesse daran, Pflegebedürftigkeit so weit wie möglich hinauszuzögern. Dadurch sind Senioren sozusagen gezwungen, geistig und körperlich so lang wie möglich fit zu bleiben. Sie müssen ständig aktiv sein, sich um Beweglichkeit bemühen und allen beweisen, dass sie fit sein wollen.
Aber Erklärungsdruck haben auch Jüngere, die sagen: „Ich genieße mein Leben, will nicht groß planen und schau mal, wo es mich hinführt.“ Sie werden belächelt und auch ermahnt: „Du hast es doch selbst in der Hand und musst dich anstrengen!“ Sie haben dann viel auszuhalten, auch im Gespräch mit Freunden und Eltern, die viel höhere Erwartungen haben.

Dabei hat man gar nicht immer alles selbst in der Hand.
Das ist vor allem bei Erwerbslosigkeit ein Problem. Und aus soziologischer Sicht sieht man teilweise kritisch, dass mit den Hartz-4 Gesetzgebungen sozialstaatliche Netze abgebaut wurden und mehr Eigeninitiative gefordert wird. Das macht Stress, ständig etwas unternehmen zu müssen und in Maßnahmen gesteckt zu werden. Klar findet manchmal einer keine Arbeit, weil er sich aufgibt und keine Initiative mehr zeigt. Aber es ist auch ein strukturelles Problem. Ungelernte Arbeiter finden heute einfach viel seltener eine Stelle. Es wird aber verschleiert, dass wir Systemprobleme haben.

Wird Optimierung denn endlos weitergehen?
Das hängt auch davon ab, ob sich auf dem Arbeitsmarkt etwas ändert. Der größte Druck geht für die meisten von dort aus. Vermutlich wird auch der Stress im Privaten irgendwann so ein Level erreichen, dass man es nicht mehr bewältigen kann. Vor allem wenn man merkt, dass man mit Freunden und Familie nicht mehr so eng verbandelt ist. Man kann davon ausgehen, dass ein Umdenken einsetzt, wenn man sich allein fühlt. Das sieht man auch an vielen jungen Vätern, die Zeit mit ihren Kindern verbringen wollen und freiwillig weniger arbeiten. Das ist natürlich auch eine Frage des Geldes. Aber ich denke, dass Menschen, gerade weil es immer mehr Krisen gibt –Erschöpfung, Überforderung oder Burn-out – sehen, dass es zu viel ist, die Erwartungen zu hoch waren. Oder man merkt, dass man alleine steht, weil man sich zu wenig um alle anderen gekümmert hat, die einem einmal wichtig waren. Da fängt man an nachzudenken, was man im Leben will.

Vielen Dank für das Gespräch.
Gabi Ballweg

Foto: privat

Diana Lindner,
Jahrgang 1979, studierte Soziologie mit den Nebenfächern Sozialpsychologie, Pädagogik und Philosophie in Kiel und Hamburg. 2011 promovierte sie in Bremen zum Thema: „ Das Gesollte Wollen. Identitätskonstruktion zwischen Anspruchs- und Leistungsindividualismus.“
Derzeit ist die Soziologin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; sie arbeitet schwerpunktmäßig zu Fragen der Optimierung: in der Vergangenheit im Forschungsprojekt „ Aporien der Perfektionierung “ (www.apas.uni-hamburg.de) und aktuell im Forschungsprojekt „ Das vermessene Leben“.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2018)
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