26. September 2018

Wie in einem dunklen Traum

Von nst5

Clara Lütkefels ist 16. Vor einem Jahr starb ein Schulfreund von ihr an Leukämie. Das ist ihr sehr nahegegangen und hat viele Fragen aufgeworfen.

Fotos: (c) Tim Wetzel; privat

Mitte Mai auf der Sachsenbrücke im Clara-Zetkin-Park im sonnig-warmen Leipzig: Teenager tanzen synchron zum Song „The Greatest“ von der Sängerin Sia – ein „Flashmob“. Spaziergänger, Jogger, Familien bleiben stehen, schauen zu, klatschen. Zuvor hatten die 13- bis 17-Jährigen in kleineren Gruppen Passanten zu Mitmachaktionen eingeladen. Schon kleine Gesten der Aufmerksamkeit, ein Lächeln, ein gutes Wort, eine Hilfestellung können eine Kettenreaktion des Guten auslösen: „Sei selbst der Wandel, den du dir von der Gesellschaft erwartest“, so ihre Botschaft. Der Aktionsnachmittag der rund 170 Jugendlichen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Luxemburg und Frankreich war in eine viertägige Zusammenkunft in Zwochau nördlich von Leipzig eingebettet, wo die Fokolar-Bewegung ein Begegnungszentrum führt.
Nach einer kleinen Pause wird es wieder laut auf der Sachsenbrücke: Ein Teil der jungen Leute improvisiert mit Trommeln, Rasseln und Pfeifen abwechslungsreiche, mitreißende Rhythmen. Immer mehr Jugendliche tanzen dazu. Unter ihnen Clara, 16, aus Bremen, die schon beim Flashmob mitgemacht hatte: lebenslustig, selbstsicher, fröhlich. „Ich tanze gern“, verrät sie. „Ich hab zwei Standardtanzkurse hinter mir und schon früher beim Kindertanzen mitgemacht.“
In diesem Moment im Clara-Zetkin-Park wie auch sonst in den Tagen in Zwochau merkt man ihr nicht an, dass sie erst vor einem halben Jahr den Tod eines guten Freundes zu beklagen hatte. Davon hatte sie den anderen Jugendlichen zuvor in Zwochau von der Bühne aus erzählt.
Mit David war sie schon in die Grundschule gegangen. In den Pausen hatten sie zusammen mit anderen Mitschülern gespielt. „Auch außerhalb der Schule haben wir uns manchmal getroffen, auf Spielplätzen, oder sind mit unseren Fahrrädern herumgefahren“, erzählt Clara Lütkefels. „Im Sommer auch mal zum Kiosk, ein Eis kaufen.“
Sie entschieden sich für die gleiche weiterführende Schule, aber für verschiedene Zweige: Clara orientierte sich Richtung Abitur; „David peilte die 10. Klasse an und wollte dann erst entscheiden, ob er eine Ausbildung anfängt, Fach-Abi oder noch Abitur macht.“
Die 16-Jährige engagiert sich in vielen Bereichen: „In meiner Freizeit spiele ich Badminton. Seitdem ich vier Jahre alt bin, mache ich mit meiner Schwester bei den Kindern der Fokolar-Bewegung mit“, erzählt sie. „Seit der dritten Klasse bin ich Messdienerin; jetzt auch Gruppenleiterin – das macht mir Spaß!“ Clara geht auf eine christliche Schule; Kirche und Glaube bedeuteten ihrer wie auch der Familie von David viel. „Aus meinem Grundschul-Jahrgang sind viele mit zur Firmung gegangen, eine ganze Reihe auch Firmkatecheten oder Gruppenleiter geworden. Ich konnte meinen Glauben also immer mit Gleichaltrigen teilen. Das stärkt ungemein!“

2015, 7. Klasse. „Dass David diese Krankheit hat, bekam ich durch Freunde mit: Knochenkrebs!“ Die Nachricht war für Clara ein Schock: „Ich bin erst mal in mein Zimmer hoch gegangen, hab mich aufs Bett geschmissen und geheult. Ich wusste, dass die Krankheit tödlich war.“ Auch die folgenden Wochen und Monate waren tränenreich. „Ich habe gebetet für David, auch mit meiner Mama, war verzweifelt. Damals hab ich ihn aber noch nicht im Krankenhaus besucht. Mama meinte, das sei zu heftig.“
Nach und nach erfuhr Clara über Freunde genauer, wie es David erging. Er musste mehrere große Operationen und eine Chemotherapie durchmachen, die ihm arg zusetzte. Hinzu kam eine lebensbedrohliche Infektion; ihm wurde das Knie herausgenommen. „Ich habe versucht, im Glauben Halt zu finden“, erinnert sich Clara. „Aber es war schwer. Ich verstand nicht, wie Gott zulassen kann, dass ein so junger Mensch eine so schreckliche Krankheit haben kann!“
Neben all den Hiobsbotschaften nahm Clara auch Ermutigendes wahr: „Dass David die Sepsis überlebt hat, obwohl die Chemo ja sein Immunsystem geschwächt hatte. Das war ein kleines Wunder, das mir Hoffnung gab. Er war innerlich superstark und hat immer weitermachen wollen.“
David bekam ein Stahlknie eingesetzt, das ihm Schmerzen bereitete. Die Folge war, dass er ein wenig humpelte, sein Bein nachzog. Clara litt mit: „Sein liebstes Hobby, Fußball, konnte er nicht mehr ausüben, weil er das Bein nicht weiter als 90 Grad knicken konnte. Die Verletzungsgefahr war zu groß: Wäre das Knie auch nur ein wenig verrutscht, hätte sein Bein amputiert werden müssen.“
Eines Tages tauchte David plötzlich wieder in der Schule auf. „Das werde ich nie vergessen: wie er die Treppe herunterkam und ich zu ihm hochguckte: Er humpelte zwar, aber war wieder da, ging wieder zum Unterricht, war gesund! Das war ein unglaubliches Gefühl. Ich war total erleichtert!“ Offenbar war der Knochenkrebs zum Stillstand gekommen.
Eine unbeschwertere Zeit begann. Clara begegnete David auf dem Schulweg oder in den Pausen; sie erlebten zusammen mit vielen Kindern und Jugendlichen zwei schöne Ferienwochen in einem Zeltlager.
Bis zum Februar 2017. „Es war abends an meinem Geburtstag. Ich war duschen gegangen und hörte, dass auf dem Handy eine SMS ankam.“ Bei David war erneut eine gefährliche Krankheit diagnostiziert worden, eine Leukämie, teilte ihr eine Freundin mit. „Ein Geburtstagsgeschenk“, kommentiert Clara mit bitterer Ironie. „Das war schlimm! In der Nacht hab ich kaum geschlafen, mich hin- und hergewälzt, gefragt: Gott, warum tust du das? Warum lässt du zu, dass die Bedrohung zurückkommt, die schon besiegt schien? Warum muss David das jetzt alles nochmal durchleiden?“
David musste erneut eine Chemotherapie über sich ergehen lassen. Inzwischen hatten sich seine Eltern getrennt. Eine zusätzliche Belastung für ihn, ist sich Clara sicher, obwohl er relativ locker damit umging. Bei ihrem ersten Besuch im Krankenhaus brachte sie David mit einem Freund von ihm einen großen Teddy mit. „Später haben Freunde und ich einen Pulli von seiner Lieblingsband für ihn gekauft und alle hintendrauf unterschrieben; wir brachten Blumen vorbei. Er sagte, er wolle kein Mitleid und auch keine Geschenke. Aber mitgebracht haben wir ihm natürlich trotzdem immer wieder mal etwas.“
Clara bewundert den besten Kumpel von David. Um für ihn da sein zu können, gab er alles andere auf: „Er ging nicht mehr zum Training. Nach der Schule fuhr er immer direkt ins Krankenhaus und blieb bis sieben, acht Uhr abends. Einfach, um gemeinsam zu lachen, herumzublödeln, ihn auf andere Gedanken zu bringen.“ Davids Kumpel wurde auch für Clara eine wichtige Stütze. „Andere Freunde boten auch an, dass ich mit ihnen reden kann, dass sie immer für mich da sind. Aber das war nicht das Gleiche, weil sie David nicht so kannten wie sein Kumpel und ich. Mit ihm konnte ich das Leid teilen, wir konnten uns gegenseitig aufmuntern, von ihm fühlte ich mich verstanden. Das hat es leichter gemacht.“
Auf und ab, zwischen Leben und Tod, Hoffnung und Verzweiflung. Irgendwann hieß es, David sei fast durch mit der Chemo; im Dezember 2017 könne er wieder zur Schule gehen. „Es sah richtig gut aus.“ Aber das hielt nicht lange an. „Am 1. August sah ich David das letzte Mal.“ Als Clara ihn am 19. August mit einem Freund besuchen wollte, wurden sie nicht zu ihm gelassen. Der Tumor hatte sich wieder stark ausgebreitet. Die Ärzte in Bremen konnten nicht mehr helfen. Er kam nach Hamburg in eine Spezialklinik. „Es zeichnete sich ab, dass es bald zu Ende gehen würde“, erzählt Clara gefasst. „Ich durfte den Mitschülern nichts sagen. Die Lehrer befürchteten, sie könnten sich sonst nicht mehr konzentrieren. Die Abschlussprüfungen standen bevor und sollten nicht darunter leiden.“ Clara war zunächst sauer: „Wie kann man das seinen Mitschülern vorenthalten! Was ist, wenn sie ihn nochmal sehen wollen? – Andererseits wäre es blöd für David gewesen, wenn sie sich alle schon von ihm verabschiedeten, obwohl er noch gar nicht bereit war zu gehen.“ Im Umgang mit seinen Schulfreunden fühlte sie sich, als säße sie zwischen den Stühlen: „Es war schwer zu erleben, wie alle weiter hofften und dachten, er kommt ja bald wieder, und den Mund halten zu müssen.“ Seine Klasse brach ohne ihn zu ihrer Abschlussfahrt nach Barcelona auf. „David war traurig, dass er nicht mit konnte. Er war enttäuscht, sauer auf den Krebs: eine sehr schwere Zeit, aber er wollte weitermachen, so wie seine Mutter. Seine Einstellung war: Egal, was kommt, egal, wie viel Schmerz ich auf mich nehmen muss, ich mache alles, wenn ich nur weiterlebe.“
Clara unterhielt sich öfter mit Davids Mutter. „Sie merkte, dass er sich verabschieden wollte. Er konnte schon nichts mehr sehen, hat immer gefragt: ‚Mama, wo bist du?’ Weil die Durchblutung aufgrund der fortgeschrittenen Leukämie so schlecht war, begannen seine Organe zu versagen, aber sein Gehör funktionierte noch. Zuvor war er wütend auf Gott gewesen, hatte ihm Vorwürfe gemacht. Seine Mutter erzählte, sie habe seine Hand genommen und gesagt, ‚Jesus, ich nehme Davids Hand und gebe sie in deine Hände. Du führst ihn jetzt.’ Sonst ist sie immer sofort aufgewacht, wenn die Ärzte ins Zimmer kamen“, berichtet Clara. „Ausgerechnet in dieser Nacht schlief sie weiter. Aber David brauchte vielleicht diesen Abstand von ihr, um zu gehen, weil seine Mama wirklich immer bei ihm war. Sie war Krankenschwester, Mutter, Psychologin; für ihn hat sie alles gemacht.“
David starb am 31. Oktober. Clara organisierte im Namen einiger Freunde eine Beileidskarte für seine Eltern. Zur Beerdigung kam fast die ganze ehemalige Grundschulklasse. „Es war ein total grauer Tag, passend zur Stimmung. Ich fühlte mich wie in einem dunklen Traum, aber dass so viele Freunde ihn auf seinen letzten Schritten begleiteten, hat mich etwas aufgemuntert. In einem Moment kam sogar unerwartet die Sonne hinter den Wolken zum Vorschein, ganz surreal. Es war, als würde David sich noch einmal bemerkbar machen, bevor er endgültig unter der Erde verschwand.“

Februar 2018, Claras 16. Geburtstag. „Genau ein Jahr, nachdem ich erfahren hatte, dass der Blutkrebs entdeckt worden war.“ Häufig hatten sich Clara und David über den Sonnenauf– und -untergang ausgetauscht. Als sie nun aus dem Fenster sah, bot der Morgenhimmel ein unbeschreibliches Farbenspiel: „Lila und rosa, es sah bombastisch aus! Das war wie ein kleiner Gruß vom Himmel, wie eine Bestätigung für das Reich Gottes: dass Gott da ist und dass David jetzt bei ihm ist.“
Erst waren die Teenies im Saal in Zwochau mucksmäuschenstill geblieben, als Clara Lütkefels ihre Erlebnisse zu Ende erzählt hatte. Dann aber brandete Applaus auf. Auch für ihre Überzeugung, „dass Gott immer bei uns ist, uns auch dann nicht allein lässt, wenn wir es gerade nicht spüren.“ Für eine solche Botschaft an Gleichaltrige braucht es einiges an Mut! „Nein, mutig finde ich das nicht“, widerspricht Clara. „Denn das habe ich von Anfang an gebraucht: mit anderen darüber zu reden. Weil ich Angst hatte, dass David sonst in Vergessenheit gerät. Ich möchte davon erzählen! Das hält die Erinnerung wach. Und es tröstet.“
Clemens Behr

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September/Oktober 2018)
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