21. Januar 2019

Ein unglaublicher Skandal

Von nst5

Dass Menschen wie Ware gehandelt werden, mag man kaum glauben. Und doch geschieht es – auch bei uns.

Menschenhandel. Moderne Sklaverei. Ausbeutung. Viele denken zuerst an ferne Länder, an Arbeiter in einsturzgefährdeten Fabriken irgendwo in Asien. Schlimm genug, dass entsprechende Nachrichten hier nur kurzzeitig aufrütteln. Was man aber noch viel weniger wahrhaben will: Auch Deutschland, Österreich und die Schweiz sind Ziel- und Transitländer von Menschenhandel. Auch hier werden Menschen gezwungen, für Hungerlöhne zu arbeiten. Andere – überwiegend Frauen und Kinder – sind Opfer sexueller Ausbeutung. Die Höhe der Gewinne rangiert gleich hinter denen aus Drogen- und Waffenhandel. Tendenz steigend.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sich die Situation in Europa verschärft. Die Opfer stammen zumeist aus Osteuropa. Bekannt geworden sind vor allem die Mechanismen der Zwangsprostitution: Junge Frauen und Mädchen werden Opfer von skrupellosen Männern, die ihnen erst das Blaue vom Himmel versprechen – tolle Arbeit, viel Geld, eine rosige Zukunft – und die sie dann in die Prostitution zwingen. Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung ist aber nur ein Bereich. Das deutsche Strafrecht verfolgt außerdem den zur Arbeitsausbeutung, zur Entnahme von Organen, Heirats- und Kinderhandel. Allen ist eines gemeinsam: Menschen sind Handelsware.
Es gibt keine verlässlichen Zahlen. Bei der Recherche stößt man überall und ständig auf die Worte „Schätzungen“ und „Dunkelziffer“. Das – so unterstreichen alle, die in diesem Bereich arbeiten – liegt auch an den Opfern. Aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen und Scham wollen sie sich nicht zu erkennen geben; erschwerend kommt hinzu, dass sie ihre rechtliche Situation nicht kennen, Angst vor Abschiebung haben, den Behörden und der Polizei nicht trauen und die Sprache nicht oder nur sehr lückenhaft beherrschen. Dass Zahlen fehlen, liegt aber auch an der Strafverfolgung. Ermittlungen sind langwierig und aufwändig, erfordern oft grenzüberschreitende Zusammenarbeit, und manches bewegt sich in rechtlichen Graubereichen. In Deutschland gibt das Bundeskriminalamt jährlich seinen „Bundeslagebericht Menschenhandel“ heraus – mit durchaus sehr exakten Zahlen über Opfer und Täter. Aufgeführt werden aber nur jene Fälle, bei denen es tatsächlich zu einem Verfahren kam. In (zu) vielen kommt es wegen unsicherer Beweislage gar nicht erst so weit.
Internationale Grundlage ist das so genannte Palermo-Protokoll der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2000. Es definiert Menschenhandel als: „Menschen anwerben, anbieten, verbringen, vermitteln, beherbergen oder annehmen durch die Anwendung unerlaubter Mittel wie Täuschung, Zwang, Drohung oder Nötigung zum Zweck der Ausbeutung“.
Die klassischen Konzepte von Sklaverei und Leibeigenschaft haben in den letzten Jahren insbesondere über die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) eine Auslegung erfahren, die die tatsächliche Entwicklung des Phänomens widerspiegelt. Modernen Formen der Sklaverei liege zwar nicht mehr das Eigentumsprinzip zugrunde; die Handlungen, die typischerweise damit zusammenhängen, hätten aber dieselben Auswirkungen. Kontrolle, Zwang, Gewalt und Bedrohung führen demnach zu einer faktischen Verfügungsgewalt über eine andere Person, die den Auswirkungen einer rechtlichen Verfügungsgewalt gleich kommt.
Schuldknechtschaft bezeichnet ein Abhängigkeitsverhältnis, bei dem der Gläubiger die Arbeitskraft eines Schuldners über Jahre mit dem Ziel ausbeutet, dass dieser tatsächlich bestehende oder vermeintliche Schulden abträgt, ohne jemals schuldenfrei werden zu können. Etwa wenn Personen sich tatsächlich oder vermeintlich immer weiter verschulden für ihren Transport und Dokumente und diese Schulden dann abarbeiten müssen.
Ein auffälliges Missverhältnis zu Arbeitsbedingungen anderer Arbeitenden ist die Variante, die vermutlich in Deutschland am häufigsten vorkommt. Laut Rechtsprechung ist das der Fall, wenn der Lohn weniger als zwei Drittel des Tariflohns beträgt. Wenn dazu noch eine verletzliche Situation von Menschen wie der unsichere Aufenthaltsstatus ausgenutzt wird, spricht man von Menschenhandel.
Das umfangreichste Wissen liegt für den Bereich der Prostitution vor. Aber auch aus anderen Branchen sind Fälle bekannt geworden. So hat es in Deutschland seit Einführung des Straftatbestands „Menschenhandel zur Arbeitsausbeutung“ inzwischen strafrechtliche Verurteilungen aufgrund von Ausbeutung gegeben in den Bereichen Gastronomie, Landwirtschaft, Arbeit in Privathaushalten, im künstlerischen Gewerbe sowie dem Friseurgeschäft. Studien und die Beratungspraxis zeigen weitere betroffene Branchen: das Baugewerbe, die Fleisch verarbeitende Industrie, den Pflegebereich, den Reinigungssektor.
Menschenhandel hat Ursachen. So besteht ein enger Zusammenhang zur Migration, wenngleich nicht alle Opfer Migranten sind. Zentral sind das wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen Herkunfts- und Zielländern sowie die gesellschaftliche Ungleichheit innerhalb der Herkunftsländer. In den Zielländern begünstigt die Nachfrage nach billiger Arbeitskraft Menschenhandel und Arbeitsausbeutung. Restriktive Einwanderungspolitik verhindert reguläre Migration; Illegalität oder ein unsicherer Aufenthaltsstatus macht Menschen aber verletzlich und ausbeutbar.
Traurig, aber wahr: Die Bekämpfung des Menschenhandels hat gesellschaftlich und politisch derzeit nicht die Priorität, die sie haben müsste. Wenig Risiko, hoher Gewinn: Das ist die Botschaft, die davon an mögliche Täter ausgeht. Und staatliche Hilfsangebote für Opfer sind längst nicht ausreichend. Glücklicherweise gibt es soziale Initiativen, Verbände, auch Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen, Einzelpersonen. Mit Kompetenz, Energie, und Herzblut springen sie in die Lücke und setzen sich – oft auch über ihre Kräfte – ein. Aber Menschenhandel ist eine schwere Menschenrechtsverletzung – und in unserer „zivilisierten“ Gesellschaft ein Skandal! Die Bekämpfung darf deshalb nicht nur das Anliegen weniger bleiben.
Gabi Ballweg

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2019)
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