21. Mai 2019

„Schritt für Schritt“

Von nst5

Offener Brief an Priorin Irene Gassmann

Sehr geehrte Priorin Irene Gassmann!
Nachrichten über sexuellen Missbrauch in der Kirche haben uns überrollt und überrollen uns weiter. Menschliche Abgründe, monströse Verbrechen kommen an den Tag, die fassungslos machen, unter denen die Opfer lebenslang leiden. Menschen haben Seelen und Körper zerstört, Bischöfe, Verantwortungsträger haben Schuld auf sich geladen, die Kirche hat versagt, die Gesellschaft ebenso. Und wir gehören dazu! Wir sind entrüstet, entsetzt, verletzt. Viele tragen sich mit dem Gedanken, aus der Kirche auszutreten, weil sie mit diesem „heuchlerischen Haufen“ nichts mehr zu tun haben oder „denen da oben“ einen Denkzettel verpassen wollen. Leicht sagen wir, die müssen das doch jetzt endlich mal vernünftig anpacken, der Papst und die Bischöfe! Das ist ja auch richtig. Aber allzu leicht schieben wir mit den Forderungen die Frage nach einer Mitverantwortung weg, entlasten unser Gewissen, waschen unsere Hände in Unschuld.
Ich fühle mich ohnmächtig. Was kann ich denn schon tun? Sie, Sr. Irene, haben sich dieser Frage zusammen mit anderen Seelsorgerinnen gestellt! Herausgekommen ist die Gebetsinitiative „Schritt für Schritt – Gebet am Donnerstag“. Denn, so Ihre Begründung, „Veränderung braucht Zeit, Geduld und stete Rückbindung an den Ursprung und die spirituellen Quellen.” Sie haben ein Gebet formuliert und tragen es in Ihrer Gemeinschaft wöchentlich zusammen vor Gott. Wer mitbeten möchte, ist willkommen. Ihr Beten um Veränderungen in der Kirche, für neuen Mut, um seinen eigenen Weg mit ihr zu gehen, zieht Kreise: Andere Klöster und Pfarreien schließen sich an, in der Schweiz, in Deutschland und Luxemburg. Beten hat Kraft. Damit geben Sie vielen Mut und Zuversicht!
Beten ist sicher nicht die einzige Antwort auf die Frage, was wir tun können. Aber Ihre Initiative fordert heraus. Sie stellt auch mich vor die Aufgabe, aus der Schockstarre herauszukommen. Nicht in Trauer und Wut stecken zu bleiben, sondern nachzudenken, was mein Beitrag sein kann. So manche Gemeinde ist gespalten zwischen denen, die auf Aufklärung, Transparenz und Aufarbeitung pochen, und anderen, die das nicht mittragen wollen, weil sie befürchten, damit würde vieles nur noch schlimmer. Vielleicht können wir uns dafür einsetzen, beide Seiten ins Gespräch zu bringen. Mein Beitrag könnte sein, denen, die Kinder- und Jugendgruppen begleiten und sich unter Generalverdacht gestellt fühlen, den Rücken zu stärken. Oder dafür zu sorgen, dass sie über ihre Fragen und Unsicherheiten sprechen können. Oder sie in einem wachsamen und verantwortungsbewussten Umgang mit Mädchen und Jungen zu schulen.
Wir in der Kirche müssen vieles auf den Prüfstand stellen. Strukturen, Umgang mit Macht und Amt, Bedeutung der Laien, Verständnis von Sexualität, Lebensformen, Rolle der Frau: Vieles wollen wir neu in den Blick nehmen – unter der Frage, was für das Christentum wesentlich ist. Wir sollten keine Denkverbote aufstellen. Wenn wir aber Veränderungen wollen, sollten wir nicht übersehen, bei uns selbst anzufangen. Das ist die Botschaft, die ich mir von Ihrer Initiative mitnehme. Danke für diesen Anstoß!
Mit freundlichen Grüßen,

Clemens Behr

Irene Gassmann
Ist seit 2003 Priorin des Benediktinerinnen-Klosters Fahr in der Schweiz. Ihre Gemeinschaft besteht aus etwa zwanzig Schwestern. Zum Thema sexueller Missbrauch in der Kirche hat sie wiederholt Stellung bezogen und am 14. Februar eine Gebetsinitiative gestartet.

www.gebet-am-donnerstag.ch

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2019)
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