20. Mai 2019

Vom Geheimnis des Menschen

Von nst5

Leonardo da Vinci wollte vor 500 Jahren den Menschen tiefer verstehen; sein Menschenbild prägte sein Schaffen und ermöglichte ihm tiefe Einsichten. Was er uns damit heute sagen kann.

Am 2. Mai vor 500 Jahren starb Leonardo da Vinci (1452-1519), der in der Kunstgeschichte markante Spuren hinterlassen hat. Als Künstler verkörperte er neben Michelangelo und Raffael das Menschenbild der Renaissance an der Schwelle zur Neuzeit: Der Mensch als Individuum rückte in den Mittelpunkt. In seinem Werk berührt Leonardo in tiefer Weise das Geheimnis des Menschen; er erschloss Perspektiven und Horizonte von bedeutender Tragweite bis in unsere Zeit.
Der Mensch steht im Mittelpunkt einer seiner bekanntesten Zeichnungen, dem Vitruvianischen Menschen – abgebildet auf der italienischen Ein-Euro-Münze –, die zugleich seine akribische Beschäftigung mit Natur und Geometrie belegt. Präzise gibt Leonardo hier in klassischer Schönheit die Proportionen des menschlichen Körpers wieder. Er war gleichzeitig Naturforscher, der sich mit Leidenschaft diesem Studium widmete, und konnte so manches entdecken, ergründen und darstellen, was anderen verborgen blieb. Sein Ziel war ein tieferes Verständnis der Schöpfung – wobei er auch wissen wollte, welchen Platz der Mensch darin hat. Leonardos geniales Werk zeugt von großer Lebendigkeit und Dynamik, die in der Darstellung von Bewegung und Empfindungen sichtbar wird.
Das Porträt der rätselhaft lächelnden Mona Lisa im Louvre durchbricht jeden rigorosen Naturalismus, es vermittelt meisterhaft und ganz unaufdringlich etwas vom faszinierenden Geheimnis des Menschen; davon wird man als Betrachter gleichsam gebannt, man scheint sich dem Blick der jungen Dame kaum entziehen zu können.
Der Höhepunkt seines malerischen Schaffens, das großformatige Wandgemälde „Das Abendmahl“ in Mailand, ist eine Momentaufnahme des Augenblicks, in dem Jesus seinen Aposteln sagt, dass einer von ihnen Verrat an ihm üben wird. Die Betroffenheit, Bestürzung und Ratlosigkeit ist den Gesichtern und Gesten der Apostel so deutlich zu entnehmen, dass man den Eindruck hat, einbezogen zu sein und diesen Moment aus unmittelbarer Nähe mitzuerleben. Das Bild spiegelt die erschütternde Spannung zwischen der Ganzhingabe Jesu und der Befremdung der Apostel. Leonardo da Vinci hat diesen Kontrast – mit seinem Blick auf den Menschen – in berührender Weise dargestellt; wobei er die Fähigkeit zu menschlicher Anteilnahme, zu Empathie, zu innerer Nähe und Verwandtschaft nicht nur unter Beweis zu stellen, sondern auch wie kaum ein anderer zu vermitteln wusste.
Der christliche Blick auf den Menschen hat seine Wurzeln im Alten Testament: Nach dem Schöpfungsbericht in der Genesis schuf Gott den Menschen als sein Abbild. Mit der Menschwerdung Christi vor 2000 Jahren hat eine grundlegend neue Ära begonnen. Von Augustinus stammt das Wort: „Gott wurde Mensch, damit der Mensch Mensch werde“. Christus, Gott und Mensch zugleich, stellt sich sozusagen ganz auf die Seite des Menschen, und indem er sagt: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Matthäus 25,40), eröffnet er gleichsam eine neue Dimension von Empathie, von Anteilnahme. Ohne jegliche Berührung mit dem Göttlichen – bewusst oder unbewusst – bleibt der andere letztlich ein Fremder.

Leid und „Leerstellen“
Den Renaissance-Menschen Leonardo – selbst als uneheliches Kind eines Bauernmädchens und eines Notars aufgewachsen – hatte wohl auch die Suche nach Heimat, nach Geborgenheit und einem Zuhause besonders sensibel gemacht. Unsere heutige Zeit ist von Gefühlen der Heimatlosigkeit und Einsamkeit geprägt, besonders stark unter Jugendlichen. In einer weltweiten Umfrage der BBC geben 40 Prozent der 16- bis 24-Jährigen an, sich oft einsam zu fühlen. Diese individuell wahrgenommene Einsamkeit, eine zunehmende Isolierung, die sich trotz ständiger Teilhabe an einem enormen Informationsfluss ausbreitet, ist eine der leidvollsten menschlichen Erfahrungen. Kommen wir aber nicht gerade in dieser Not der Isolation jenem näher, den Pilatus als „Ecce homo“ – „Seht, der Mensch“ (vgl. Johannes 19,5) bezeichnet hat? Im Bild seines zerschundenen menschlichen Antlitzes identifiziert sich Jesus mit jedem von uns, ist uns weit näher und innerlicher, als wir ahnen. Werden in der absurden Einsamkeit seiner Verlassenheit am Kreuz nicht auch neue Wege gebahnt

Leonardo da Vincis “vitruvianischer Mensch”
(Illustration: (c) Vaara/iStock, bearbeitet von elfgenpick.de)

Hinter der menschlichen Einsamkeit steht – nicht nur bei da Vinci – eine starke Sehnsucht nach Verständnis und Geborgenheit, nach einem Zuhause. Ich kenne Menschen, denen die Erfahrung nicht fremd ist, dass Gott selbst sich über mehr oder weniger lange Zeit zurückzieht und in Schweigen hüllt. Es ist unwahrscheinlich schwer, die Erfahrungen solcher „Leerstellen“ im Leben auszuhalten, sie nicht zu kaschieren, einfach irgendwie zu überbrücken oder anderweitig auszufüllen. Doch wer sich darauf einlässt, der wird nach und nach immer mehr spüren, dass er gerade da das Geheimnis des Menschseins berührt, dass ihn das zu echter Verbundenheit und Weggemeinschaft mit anderen führen kann. Der Austausch von Lebenserfahrungen, gerade in besonders herausfordernden Situationen, ist ein wichtiger Schlüssel, um sich mit anderen innerlich verbunden zu wissen, sie nicht mehr als Fremde zu sehen, sondern als Nächste, als Mitmenschen, weit jenseits allen Schubladendenkens. Das befreit auch aus dem Teufelskreis der Ich-Bezogenheit; man lernt aufrichtig zu lieben und geliebt zu werden.

Mit-Teilen schafft Nähe
Keiner – auch nicht da Vinci – kann das Geheimnis des Menschseins vollständig entschlüsseln. Aber dieses menschlich-göttliche Mysterium ist in allen lebendig und Basis für ein Miteinander auch in dem, was wir im Innersten leben, was wir selbst oft nicht verstehen, aber was unser Leben im Tiefsten ausmacht. Das Geheimnis des Lebens ein wenig teilen zu können ist ein realer Weg, die Geschwisterlichkeit aller Menschen zu erfahren. Dann wird aus dem Ich und Du ein Wir, in dem man sich trotz maximaler Vielfalt, möglicher Gegensätze und vielleicht sogar Konflikthaftigkeit als Schwestern und Brüder erlebt, füreinander lebt, ein Zuhause findet und Glück.
Wenn die Begegnung mit dem anderen dauerhaft lebendig bleiben soll und ich seinen Reichtum entdecken will, dann muss ich mich auf dieses Wagnis einlassen: ihn in seiner Andersartigkeit annehmen und darin nicht verändern wollen. Je mehr ich das schaffe, desto mehr erfahre ich Leben, Freiheit und Glück in allen persönlichen Beziehungen, in Ehe, Partnerschaft und Freundschaft. Da entwickelt sich Vertrauen und Gelassenheit. Und die Suche nach dem Geheimnis jedes Menschen, nach dem, was ihn ausmacht und ihn mit anderen verbindet, kann zu einer echten Leidenschaft werden, die einen nicht mehr loslässt – so wie vor 500 Jahren Leonardo da Vinci.
Hermann J. Benning

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2019)
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