16. Mai 2019

Wie eine Achterbahnfahrt

Von nst5

Wenn Berater von außen in einen Betrieb kommen, geht das oft nicht reibungslos. Hausleiterin Carolin Artmann aus Solingen bezeichnet es als
„ superspannend “ und bereichernd.

„Jeden Tag was anderes!“ Manch einem könnte das wie eine Klage von den Lippen kommen. Aber bei Carolin Artmann klingt die Aussage freudig, unternehmungslustig. Tatsächlich beschreibt sie auch ganz gut den beruflichen Alltag der 47-jährigen. Seit vier Jahren ist die gelernte Volkswirtin, die beruflich schon früh im Marketing und Eventmanagement „gelandet“ war, nun Hausleiterin eines Selbstversorgerhauses in der Klingenstadt Solingen. „Wenn es darum geht, mit den Gästen abzustimmen, was sie brauchen, hat vieles von dem, was ich hier mache, mit Veranstaltungsplanung zu tun.“ Und – ein wenig schmunzelnd – meint sie: „Jeder Gast, der zu uns kommt, ist wie eine kleine Veranstaltung – mit mehr oder weniger Service, je nach Bedarf und völlig unterschiedlich.“
Das „Zentrum Frieden“ mit seinen 60 Betten in 22 Schlafräumen und seinen verschiedenen Gruppen- und Tagungsräumen gehört der Fokolar-Bewegung. 1981 hat die Diözese Köln es der geistlichen Gemeinschaft zur Nutzung überlassen. Davor hatten bis 1980 Ordensschwestern dort einen Konvent. Seinen Namen erhielt das Tagungshaus 1981 von Chiara Lubich, der Gründerin der Bewegung. Sie verband damit den Wunsch, dass die Menschen, die im Haus zusammenkommen, innerlich auftanken können und selbst zu Botschaftern des Friedens und der Geschwisterlichkeit werden.
In den folgenden Jahren entwickelte sich das Haus zum Begegnungshaus für die Angehörigen der Bewegung im Nordwesten Deutschlands, wurde nach und nach renoviert, umgebaut und den unterschiedlichen Bedürfnissen angepasst. „Dabei haben sich sehr viele Menschen ehrenamtlich und mit sehr viel Herzblut eingebracht“, weiß Carolin Artmann aus eigener Erfahrung. Sie selbst lebte mit ihrer Familie in der unmittelbaren Nachbarschaft. „Mein Elternhaus steht 50 Meter Luftlinie hier vom Garten weg“, sagt sie. Als Kind hatte sie noch die Ordensschwestern im Kloster erlebt. „Und als dann die Fokolare kamen, schauten wir natürlich, was da jetzt passierte.“ Artmanns fanden nach und nach Zugang zu den neuen Nachbarn und ein Zuhause in der Spiritualität der Einheit. Carolins inzwischen verstorbener Vater hatte bei den Umbauarbeiten tatkräftig angepackt, die Mutter tut es in Haus und Garten bis heute. Und als Jugendliche hat Carolin „gefühlt unendlich viel Zeit hier verbracht. Das Haus ist mir ein Stück echtes Zuhause.“
Als Carolin Artmann dann studierte, arbeitete und später heiratete, lebte sie nicht mehr Tür an Tür mit dem Haus in der Wupperstraße. Dennoch bekam sie  vieles mit: Dass die Gruppen nicht mehr nur aus der Fokolar-Bewegung kamen, sondern auch aus Gemeinden und Vereinen. Dass Familien es für größere Feierlichkeiten nutzten. Dass Gruppen aus der Stadt Solingen für ihre Tagesveranstaltungen oder Sitzungen herkamen. Und vor fünf Jahren dann auch, dass die damalige Hausleitung schwer erkrankt war, die Arbeit nicht mehr machen konnte und man überlegte, wie es weitergehen sollte. „Meine damalige Chefin hatte mir in einem Personalgespräch gerade zu verstehen gegeben, dass ich mich neu orientieren sollte.“ Auch wenn das keine direkte Kündigung war, „habe ich bei den Verantwortlichen der Fokolar-Bewegung nachgefragt – und mich beworben. Nach dem Vorstellungsgespräch landete ich dann hier.“
Seitdem ist Carolin Artmann erste Ansprechpartnerin für alle Interessenten und Gäste. Das „Zentrum Frieden“ ist ein Selbstversorgerhaus: Eine „typische“ Gruppe reist Freitagnachmittag an. „Da sind wir noch da, machen eine Übergabe und erklären alles. Dann bekommen sie den Schlüssel und reisen am Sonntagnachmittag wieder ab.“ Es kommen kirchliche Gruppen, Chöre und Orchester für Probenwochenenden, Jugendgruppen für ihre Freizeiten oder Erwachsene für Bildungsveranstaltungen. Außerdem gibt es Familien, die das Haus für Feste oder große Familientreffen nutzen – „vor allem, wenn sie über ganz Deutschland verstreut leben.“
Zum Team des Hauses gehören neben Carolin Artmann noch vier weitere Teilzeit-Angestellte – eine für Gäste und Verwaltung, zwei für die Hausreinigung, eine für den Garten. Darüber hinaus bringen sich in vielem Ehrenamtliche aus der Fokolar-Bewegung ein. „Die tun das gern; auch weil sie die Atmosphäre des Hauses im Sinn der Geschwisterlichkeit mitprägen wollen.“ Als Hausleitung hat sie die ersten Kontakte, ist für alle Absprachen zuständig, verhandelt Preise, schließt die Verträge. „Die Ehrenamtlichen sind dann auf einer ganz anderen Ebene mit den Gästen unterwegs; interessieren sich für sie und für das, was sie machen.“ Da wächst Beziehung. Carolin Artmann weiß, dass die Ehrenamtlichen dafür „auch richtig viel Zeit investieren“. Deshalb freut sie sich, „wenn dann montags bei mir einer sitzt und erzählt, wie nett die Gäste waren und wie viel Freude es mit ihnen gemacht hat.“ Und weil das Zusammenspiel passte, kam derjenige dann auch einmal mehr, als es nötig gewesen wäre. „Im Grunde fühlen sie sich beschenkt von den Begegnungen. Und genau deswegen machen sie es ja, weil es ihnen wichtig ist.“ Manchmal bekommt die Hausleitung dann auch von den Gästen gespiegelt, dass das gegenseitig war: „Die freuen sich, weil sich da jemand für sie interessiert und geholfen hat.“
Dass Carolin Artmann der Kontakt mit ihren vielen unterschiedlichen Gästen auch selbst großen Spaß macht, hört man. Und zwar nicht nur, wenn sie von jenen Gruppen erzählt, von denen sie fast den Eindruck hat, „die haben uns gefunden; die passen perfekt zu dem, was wir machen und mit unseren Gästen leben wollen.“ Wie etwa die Familie, die einmal selbst zu einer Feier im Haus eingeladen war und seitdem immer wieder kommt – inzwischen nicht mehr nur für ihre Groß-Familien-Wochenenden, sondern auch mit Gruppen ihrer Kirchengemeinde.
„Es gibt viele Stammgäste“, erläutert die Hausleiterin. Aber auch immer wieder neue Gäste, die über das Internet auf das „Zentrum Frieden“ aufmerksam werden. Bei den meisten merkt Artmann schnell, ob das passt. Die, die dann kommen, schätzen das Haus wegen seiner Größe, aber auch wegen der vorhandenen Saaltechnik und der Atmosphäre, die sie hier wahrnehmen. „Vor Kurzem war wieder eine Gruppe da, die regelmäßig Veranstaltungen für Jugendliche bei uns durchführt. Einer der Betreuer war längere Zeit nicht dabei. Als er jetzt wieder zur Tür reinkam, sagte er sofort: ‚Das ist wie nach Hause kommen.’“ Carolin Artmann erzählt auch von einem Brautvater, der ihr nach der Hochzeitsfeier sagte: „Euer Haus lädt dazu ein, achtsam miteinander umzugehen.“ Jemand aus der Solinger Stadtverwaltung nennt es gern eine „Oase“. Über solche Reaktionen freuen sich die Hausleitung und ihr kleines Team sehr. Denn: „Auch wenn das jeder mit anderen Worten ausdrückt, bringen sie etwas von dem rüber, was wir nicht allein dadurch schaffen, dass wir geputzt haben.“
„Herausfordernde“ Situationen kennt Caro Artmann aber natürlich auch. „Wir vertrauen unseren Gästen und übergeben ihnen Freitag das Haus. Samstag kommt dann noch mal jemand rein und schaut. Manchmal läuft doch was schief oder anders, als man sich das vorstellt. Am Ende klappt es dann zwar doch meistens und alles geht gut. Aber da bin ich doch froh, dass ich eine Viertelstunde weg wohne und nicht immer alles mitbekomme.“ Manchmal kommt es auch vor, dass mehrere Gruppen gleichzeitig da sind. „Da überleg‘ ich im Vorfeld oft lang, bespreche dies und das, denke dieses und jenes durch, versuche allen gerecht zu werden, gute Lösungen für alle anzubieten.“ Und oft läuft es dann bestens. Aber nicht alles lässt sich planen, und „wenn die Gruppen dann nicht flexibel sind, kann es auch zu Spannungen kommen.“
Eine ihrer „ersten Amtshandlungen“ im neuen Job war die Teilnahme an einer Begegnung mit den Verantwortlichen aus den anderen vier Tagungshäusern der Fokolar-Bewegung in Deutschland, Österreich und der Schweiz. „Von da an haben wir uns regelmäßig getroffen, immer in einem anderen Haus. Aus dem sehr guten Austausch konnte ich viele Anregungen mitnehmen und unter uns ist viel Vertrauen gewachsen. Wir konnten einander helfen und auch zusammenarbeiten.“ In diesem Miteinander kam dann auch schnell die Frage auf: „Wo stehen wir wirtschaftlich mit den Häusern?“ und „Wie können wir sie zukunftsfähig aufstellen?“ Damit begann ein Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist. Carolin Artmann vergleicht das für sich mit einer Achterbahnfahrt. Da sind einerseits die positiven Rückmeldungen der Gäste und andererseits die wirtschaftlichen Herausforderungen. „Dieses Haus hier ist erst mal für die Bedürfnisse der Fokolar-Bewegung entstanden. Inzwischen hat sich vieles verändert und ohne Fremdgruppen kämen wir schon lange nicht mehr hin.“ Und weil Veränderung das einzig Beständige ist, „ist es jetzt an uns, zu schauen, ob wir einen guten Weg finden, die Einmaligkeit des Hauses so zu nutzen, dass es sich auch in Zukunft wirtschaftlich trägt.“
Zusammen mit einer externen Beraterfirma wurden inzwischen schon die drei deutschen Häuser „durchleuchtet“. „Superspannend“ sei es, „wenn jemand ins Haus kommt und es mal mit anderen Augen anschaut und dann auch Vergleiche ziehen kann mit anderen Häusern.“ Neben der umfassenden Analyse der Ist-Situation liegt nun auch eine lange Liste mit Vorschlägen für größere und kleinere Veränderungen für die Zukunft vor. „Manches davon hatten wir auch schon irgendwie gewusst“, sagt Carolin Artmann, „aber vielleicht nicht richtig wahrhaben wollen.“ Als „Glücksfall“ empfindet sie, dass sie immer das Gefühl hatte, die Berater hätten „sehr gut verstanden, was wir hier machen.“
Eine kleine Projektgruppe ist dabei, diese Vorschläge nun auch für Solingen zu sondieren: Was von den Vorschlägen kann umgesetzt werden und reicht das für eine bessere Ausnutzung? Welche Partner kann man eventuell dauerhaft mit ins Boot holen? Carolin Artmann versucht, dabei auch immer ihr kleines Mitarbeiterteam und die Ehrenamtlichen einzubeziehen. Von den bisherigen Überlegungen kann und will sie aber noch nichts erzählen. „Das wäre noch viel zu früh.“ Bei allem will die Hausleiterin realistisch bleiben, aber auch optimistisch. „Zunächst mal ist jede Idee erlaubt und hilfreich. Auch wenn im Grunde alles möglich ist, will ich mir am Schluss auf keinen Fall vorwerfen, dass wir nicht alles versucht haben. Und da hilft es weder mir noch den anderen, wenn wir gleich bestimmte Optionen ausklammern.“ Bis zum Herbst soll diese Sondierung abgeschlossen sein. Aber Sorge, dass sie dann ihre Stelle verlieren könnte, kann man ihr nicht anmerken. „Ich denke, unsere Stärke sind die Beziehungen, die wir mit den Gästen und mit unserem Umfeld in der Stadt aufbauen und leben. Und so gehen wir auch diese Phase an. Dann werden wir verstehen, was dran ist und ob sich ein Weg öffnet“, sagt sie und strahlt dabei viel Frieden aus.
Gabi Ballweg

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2019)
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