24. Juli 2019

Abrüsten statt entrüsten!

Von nst5

Manche Äußerungen, Einstellungen und Verhaltensweisen in unserer Gesellschaft sind schockierend selbstbezogen und respektlos. Kann ich mithelfen, gegenzusteuern? 

Gewisse Kommentare in den sozialen Medien lassen einem die Nackenhaare zu Berge stehen. Nach dem mutmaßlichen Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke Anfang Juni berichteten Zeitungen von Beleidigungen des Toten, Schadenfreude über sein tragisches Schicksal und ernsthaften Bedrohungen anderer Politiker. Nicht nur in diesem Fall finde ich die Äußerungen abgrundtiefen Hasses erschreckend. Offenbar entwickelt sich zumindest in Teilen unserer Gesellschaft eine alarmierende Verrohung des Denkens und der Sprache. Die Menschlichkeit bleibt auf der Strecke. Selbst wenn vielleicht nur eine Minderheit derart Rachegelüste und Feindschaft verbreitet, finde ich die Entwicklung bedenklich. Da drängt sich die Frage auf: Dürfen wir unsere Gesellschaft noch zivilisiert nennen oder sind das Anzeichen, dass wir zurückfallen in steinzeitliche Verhältnisse?
Fälle von Häme, die bis zum Beklatschen eines Mordes oder zum Aufruf gehen, einen Menschen zu vernichten, mögen Extrembeispiele sein. Andere Entwicklungen erregen jedoch nicht weniger Besorgnis: Zehn bis fünfzehn Prozent aller Schüler werden im Laufe ihrer Schulzeit Opfer von Mobbing. Kinder und Jugendliche nutzen tatsächliche oder erfundene Schwächen von Mitschülern, Abweichungen in Aussehen oder Verhalten von der Norm, um sie mit Worten, über soziale Medien oder auch mit handgreiflicher Gewalt nach und nach fertigzumachen. Mobbing kann schon im Kindergarten vorkommen.
Als Andrea Nahles, die Parteivorsitzende der SPD, zurücktrat, bemängelten Parteimitglieder den Umgang mit ihr im Rückblick als beschämend, schändlich, teils destruktiv und verletzend, als öffentliche Demontage. In Österreich hat die Politik in den vergangenen Monaten einen vergleichbaren Eindruck vermittelt: Bundespräsident Alexander Van der Bellen sprach nach dem Auseinanderbrechen der Regierungskoalition im Mai von einem Sittenbild, „das Grenzen zutiefst verletzt. Ein Bild der Respektlosigkeit, des Vertrauensbruchs, der politischen Verwahrlosung.“ Aufgrund dessen sah er sich zu dem Appell an die Bürger veranlasst: „Ich bitte Sie, wenden Sie sich nicht angewidert von der Politik ab!“

Emotional ja, aber nicht herabwürdigend
Dass die Emotionen auch mal hochschlagen, ist verständlich. Aber wir sollten uns von ihnen nicht dazu hinreißen lassen, den Respekt gegenüber Menschen und ihrer Würde zu verlieren. Wir erleben eine Zeit der schnellen Entrüstung. Viele sind stolz darauf und reklamieren das Recht für sich, Wutbürger zu sein. Die Gefahr besteht, allein auf sich und seine Bezugsgruppe bezogen zu sein und sich zum Maßstab, zum Richter über andere zu erheben.
Ich sehe mich nicht als Wutbürger, erlebe Anteile ihrer Charaktereigenschaften allerdings auch bei mir: Wenn jemand selbstsicher zweifelhafte Behauptungen in die Welt setzt, ohne sie überprüft zu haben, regt mich das auf. Redet jemand schlecht über andere, die mir lieb sind oder von denen ich auch sympathische Seiten kenne, bin ich entrüstet. Verdreht jemand die Fakten zu seinen Gunsten, geht mir der Hut hoch. Mag ja berechtigt sein, okay. Aber: „Bleib mal auf dem Teppich!“, sage ich mir, möchte es allen sagen, die ihrer Empörung leicht verfallen: „Kein Grund, die Messer zu wetzen. Rüste mal ab! Im Hirn und im Herzen. Das tut dir und deiner Gesundheit gut und denen, über die du dich aufregst, erst recht!“
Aber: Mit den Gedanken und den Reaktionen abrüsten, wie kann das gehen? Nicht alles sofort glauben; nicht umgehend reagieren; sich erst mal etwas gründlicher informieren, kann dazugehören. Wie oft steht ein griffiges Zitat, das man für absolut unmöglich hält, allein für sich. Hat derjenige es tatsächlich so gesagt? In welchem Zusammenhang? Was wurde noch zum Ausdruck gebracht? Wenn ich etwas Zeit einsetze und berücksichtige, was noch geäußert wurde, stellen sich viele Aussagen schon ganz anders dar und bieten wesentlich weniger Anlass, mich darüber zu echauffieren.

Wie möchte ich selbst behandelt werden?
Ein Ansatzpunkt könnte sein, nicht nur an der Oberfläche stehen zu bleiben. Selbst wenn eine Person etwas sagt, das mir gegen den Strich geht und mit dem ich nicht übereinstimmen kann: Hat sie es tatsächlich so gemeint, wie es bei mir ankommt? Das heißt, mich für sie interessieren und bei ihr nachfragen: Worauf wollte sie hinaus? Was sind ihre Beweggründe? Wie ist sie zu ihrer Meinung gelangt? Vielleicht komme ich dank der Antworten zu dem Schluss, dass ihre Anliegen berechtigt sind. Chiara Lubich hat häufig vom „Sich eins machen“ gesprochen. Sich in eine andere Person hineinversetzen, in ihre Haut schlüpfen, ist ein Dienst an ihr, der für die Gründerin der Fokolar-Bewegung zur „Kunst des Liebens“ gehört. Auf ihre Weise drückt sie damit die Haltung des Apostels Paulus aus, der von sich schreibt: „Den Juden bin ich ein Jude geworden… Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden… Allen bin ich alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten.“ 1
Vielleicht führen mich die Vorkenntnisse und Gedanken des anderen ja zur gleichen Ansicht, zum gleichen Urteil wie ihn. Oder ich kann zwar viele seiner Beweggründe teilen, seine Schlussfolgerung aber trotzdem nicht. Ein Gespräch aus ehrlichem Interesse bietet in jedem Fall die Chance, dass Nähe und Verständnis füreinander wachsen, selbst wenn Verschiedenheit im Denken und in den Ansichten bleibt.
Zur inneren Abrüstung kann die „Goldene Regel“ eine Leitlinie sein. Bekannt ist sie als Sprichwort: „Was du nicht willst, das man dir tu, füg auch keinem anderen zu.“ In unterschiedlichen Formulierungen kommt dieser ethische Maßstab menschlichen Handelns in den heiligen Schriften aller großen Religionen vor. In der Bibel heißt es: „Wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen!“ 2 Hier geht es ebenfalls darum, mich in das Gegenüber hineinzuversetzen: Will ich so behandelt werden, wie ich andere behandele? Möchte ich der Lächerlichkeit preisgegeben, verunglimpft, gemobbt, verfolgt, bedroht werden? Natürlich nicht. Konsequenterweise müsste ich mich auch anderen gegenüber entsprechend verhalten. Und wie möchte ich, dass die anderen mit mir umgehen? Es freut mich, wenn sie sich für mich interessieren, mir Vertrauen entgegenbringen, mir ihre Meinung sagen – aber auch meine Auffassung stehen lassen; wenn sie mit mir engagiert, aber respektvoll streiten. Umgekehrt sollten sie das von mir selbstverständlich genauso erwarten können.
Übrigens bezweifle ich, dass es die Goldene Regel schon in der Steinzeit gab. Dass sie eine brauchbare Grundlage für eine zivilisierte Gesellschaft ist, davon bin ich jedoch felsenfest überzeugt.
Clemens Behr

1 Korinther 9,20-22
2 Lukas 6,31

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2019)
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