23. September 2019

Brücken von der Außenwelt bauen

Von nst5

Der mit einer Demenz verbundene Verlust an Fähigkeiten macht vielen Angst. Wie mit Menschen mit einer Demenz umgehen? Darüber sprechen wir mit Ursula Sottong, Leiterin der Fachstelle Demenz der Malteser in Deutschland.

Woran zeigt sich eine Demenz, Frau Sottong?
Vergesslichkeit allein ist noch keine Demenz. Damit man von Demenz sprechen kann, müssen mindestens zwei Faktoren zusammenkommen: eine Verschlechterung des Gedächtnisses über mindestens sechs Monate und ein zweites Symptom! Konnte ich mir noch nie Telefonnummern merken, ist das kein Anzeichen. Aber wenn ich mir Namen immer gut merken konnte und sie seit einem halben Jahr ständig vergesse, sollte ich dem nachgehen. Ein weiteres Symptom kann zum Beispiel eine Orientierungsstörung sein: Es wird zum Problem, vom Einkaufen zurückzufinden, oder das Zeitgefühl geht verloren. Klassischerweise kann auch die Ausführung gestört sein, das Denken, Planen, Handeln. Du willst etwa Kartoffeln kochen, stellst sie aber ohne Wasser auf oder stellst den Herd nicht an.
Die Veränderungen geschehen oft schleichend. Die Menschen versuchen, eine Fassade aufrechtzuerhalten: „Wo warst du? Wir waren doch heute verabredet.“ – „Das hat mir aber keiner gesagt!“ Die Menschen merken, dass etwas mit ihnen passiert, haben aber Angst und verbergen es. Die Mutter hat immer gut gekocht, hört aber auf einmal damit auf mit der Begründung: „Für mich allein lohnt es sich ja nicht!“ Auch Angehörige suchen Gründe: „Im Alter wird man halt vergesslich.“ So kann es sehr lange dauern, bis klar wird, dass etwas nicht stimmt und jemand Unterstützung braucht.

Station Silvia im Malteser Krankenhaus in Flensburg: Mitarbeiterin mit Patientin. – Foto: (c) Malteser Deutschland

Weil Demenz in unserer Gesellschaft mit Scham behaftet ist?
Zu merken, dass deine Hirnleistung rückläufig ist und du vieles nicht mehr kannst, macht Angst: „Wie geht es weiter? Bin ich noch ich? Andere werden über mich entscheiden.“ Hinzu kommt die Vorstellung: Wenn du geistig nicht auf der Höhe bist, wirst du ausgestoßen. Richard Taylor, Psychologe in den USA, hat mithilfe seiner Frau ein Buch über seine Demenzerkrankung geschrieben: „Alzheimer und Ich“. Darin erzählt er, wie sie beide jemanden auf einer Intensivstation besuchen und der Stationsarzt, der von Taylors Demenz weiß, nur mit seiner Frau redet. Beim nächsten Besuch aber spricht ein anderer Arzt, der nichts von der Diagnose weiß, ganz normal mit ihm. Das zeigt die Problematik: Wir denken, die Persönlichkeit verändere sich und der Mensch verschwinde. So ist es nicht! Die Persönlichkeit bleibt, nur brauchen wir immer mehr Zeit, um bis zu ihr vorzudringen. Das Gehirn braucht letztlich immer mehr Zeit, um auf die Außenwelt zu reagieren. Darum ist es an der Außenwelt, Brücken zu bauen und Zeit zu geben. Ein Säugling kann nicht sagen, was ihm wehtut, aber wir können ihn trotzdem verstehen. Ähnlich geht es uns mit Menschen mit Demenz. Wir müssen lernen, sie zu verstehen.

Wenn sich der Verdacht auf Demenz bestätigt, was dann?
Das hängt davon ab, wie man die Diagnose vermittelt. Ganz wichtig ist, mit den Menschen über ihre Diagnose und die Folgen zu reden. Wie erleben sie das? Dann schauen: Wie alt sind sie, wie beweglich? Leben sie allein, können sie in die Nähe ihrer Kinder ziehen? Welche Unterstützung ist nötig, wofür kommt die Pflegeversicherung auf?
Wir alle müssten uns Gedanken um unsere Zukunft machen: Wie groß ist das Haus, der Garten, was werde ich noch schaffen, was muss ich aufgeben? Was sind meine Kinder bereit, für mich zu tun? Wo, wie, mit wem will ich im Alter leben? Das sind Fragen für alle. Aber manchmal nehmen wir sie erst ernst, wenn zum Beispiel eine Demenz im Raum steht.

Die gewohnte Umgebung aufzugeben, fällt schwer!
Oft reicht es, sie zu verändern! Wenn die Orientierung schlechter wird und die betreffende Person auf dem vollgestellten Bord im Bad ihre Zahnbürste nicht findet, räumt man eben alles bis auf Zahnbürste und Zahncreme weg. Eine Frau beklagte, dass ihr Mann die benutzten Taschentücher überallhin stopfte: unter Kissen, in die Besteckschublade. Es stellte sich heraus, dass der Mülleimer in der Küche verdeckt unter der Lade stand: Der Mann wollte die Taschentücher entsorgen, wusste aber nicht, wohin. Als in jeden Raum ein gut sichtbarer Mülleimer kam, hat er diese benutzt.
Die Wahrnehmung verändert sich: Manche Leute mit Demenz halten plötzlich die Blumen auf dem Teppich für real. Beim Bücken, um sie zu pflücken, fallen sie hin. Also den Teppich rausnehmen, selbst wenn er ein teures Erbstück ist. Anpassen müssen sich die Angehörigen, denn der Mensch mit Demenz kann sich nicht mehr anpassen.

Meinten Sie das vorhin damit, der Person mit Demenz Brücken zu bauen?
Genau. Es geht darum, die Alltagskompetenzen so lange wie möglich zu erhalten. Nimmt man dieser Person alles ab, weil es für einen selbst „bequemer“ ist, gehen die nicht genutzten Fähigkeiten verloren. Das beschleunigt den Prozess.
Tut sich jemand mit dem Besteck schwer, sollte man genau hinschauen: Wenn er noch mit den Fingern essen kann, lässt sich die Nahrung als Fingerfood aufbereiten. Oder weiß derjenige nicht mehr, wie man mit Besteck umgeht? Dann gibt man ihm die Gabel in die Hand und führt sie zum Teller. Das ruft vielleicht die Erinnerung an die Handbewegung wach, so dass er allein weiteressen kann. Beim Anziehen kann helfen, zunächst nur die Unterwäsche und erst dann die Oberkleidung herauszulegen. Die Kompetenzen zu erhalten, ist auch im Interesse der Angehörigen. Alles, was der Mensch noch selbst tun kann, entlastet sie. Und ihn selbst macht es stolz; es gibt ihm Selbstbewusstsein und Lebensfreude! Am Ende geht es um Lebensqualität.
Menschen mit Demenz sind schnell irritierbar. Je größer die Irritation, umso größer der Stress und desto weniger können sie auf die verbliebenen Fähigkeiten zurückgreifen. Sie können oft abends nicht mehr, was morgens noch ging, weil sie sich tagsüber erschöpft haben. Sie brauchen viel Zeit und Ruhephasen.

Tageseinrichtung in Bottrop. – Foto: (c)

Mit Menschen mit Demenz ist oft die Verständigung schwierig: Auf der Vernunft-Ebene sind sie nicht zu erreichen, über die Ebene der Gefühle schon. Aber wie?
Es hängt davon ab, was du selbst empfindest und vermittelst. Egal, wie fortgeschritten die Demenz ist, ich gehe mit den Menschen so um, als hätten sie keine. Also nicht über sie reden, sondern mit ihnen. Geben wir ihnen das Gefühl, mittendrin zu sein oder nicht mehr dazuzugehören? Nicht sie oberlehrerhaft korrigieren und wie Kleinkinder behandeln, sondern mitmenschlich-partnerschaftlich. Die Selbstverständlichkeit der Begegnung ist entscheidend. Nicht denken: „Der ist deppert!“, sondern: „Du bist so, wie du bist. Vieles ist jetzt eine Herausforderung für dich und darauf muss ich mich einstellen.“ Es braucht die Haltung: „Du bist mein Lehrer. Du musst mir zeigen, was du brauchst, damit wir einander begegnen können.“ Ihnen das Gefühl vermitteln: „Schön, dass es dich gibt!“ Und dann auch mit der gleichen Natürlichkeit sagen: „Tut mir leid, aber ich bin völlig fertig. Jetzt brauche ich eine Pause.“ Denn wenn sich die Angehörigen nicht auch selbst schützen, ist es wie eine Ko-Erkrankung: Irgendwann sind sie selbst erschöpft.

Wo können sie sich Hilfe oder Entlastung holen?
Es hilft schon, sich mehr über das Krankheitsbild zu informieren. Es gibt Schulungsangebote, Einrichtungen für Menschen mit beginnender Demenz, Besuchsdienste, Demenzberatungsstellen. Angehörige sollten sich jemanden suchen, mit dem sie sich austauschen können. Auch Pfarr- und Kirchgemeinden sind gefragt, seelsorgliche Begleitung anzubieten.

Woran kann es liegen, wenn Menschen mit Demenz in Abwehrhaltung gehen?
Sie waren vielleicht immer selbstbestimmt, jetzt will sie ständig jemand an die Hand nehmen: Da würde doch jeder leicht aggressiv! Es lohnt, sich zu fragen: „Was bedeutet die Situation jetzt für die Person? Warum reagiert sie so? Was ist mein Anteil?“ Ihr Verhalten kann durch unsere Abwehr ihnen gegenüber ausgelöst sein. Wenn uns ihr Vorschlag undurchführbar erscheint, nicht sagen: „Das geht doch gar nicht!“, sondern: „Klingt gut! Mal sehen, ob wir das schaffen!“

Was müsste sich in Politik und Gesellschaft im Umgang mit Menschen mit Demenz ändern?
Wir brauchen eine Gesellschaft, die Rücksicht nimmt, die sich nicht nur an Leistung orientiert. Menschen mit Einschränkungen haben genauso ihre Existenzberechtigung und ihnen muss genauso auf Augenhöhe begegnet werden.
Das Zweite: Die Entlastungssysteme sind nicht ausreichend finanziert. In Deutschland arbeitet die Regierung an einer Nationalen Demenzstrategie. Aber sie setzt für mich zu stark auf das bürgerschaftliche Engagement.
Im Pflegebereich braucht es ein ganz anderes Denken: Mit welchen Qualifikationen können wir den Bedarf decken? Die Anforderungen sind teilweise übermäßig hoch: Nicht in jeder niedrigschwelligen Einrichtung ist eine gerontopsychiatrische Fachkraft nötig, die teuer und schwer zu finden ist. Stattdessen muss es darum gehen: Was brauchen die Menschen wirklich?

Ganz herzlichen Dank für das Gespräch!
Clemens Behr

Foto: (c) Malteser Deutschland

Ursula Sottong,
geboren 1953, ist promovierte Ärztin und Gesundheitswissenschaftlerin. Von 1991 an hat sie bei den Maltesern in Deutschland die Abteilung für Gesundheitsförderung und Prävention in Köln aufgebaut und geleitet. Seit 2011 leitet sie dort auch die Fachstelle Demenz. Deren Aufgabe ist es, Ansprechpartner in fachlichen Fragen nach innen und außen zu sein, Forschungs- und Modellprojekte auf den Weg zu bringen, Schulungen für unterschiedliche Zielgruppen durchzuführen und die Geschäftsführung zu beraten. Die Fachstelle gibt außerdem eine Reihe von Informationsbroschüren zum Thema Demenz heraus.
www.malteser-demenzkompetenz.de

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September/Oktober 2019)
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