24. September 2019

Immer weniger selbstständig

Von nst5

Demenz: Was das ist, wie weit sie verbreitet ist und welche Formen es gibt.

Vor zwei Jahren ging der Fall durch die Zeitungen: Ein Supermarkt in Augsburg hatte eine 91-Jährige wegen Diebstahls angezeigt. Die Seniorin, die an Demenz leidet, war untröstlich und schämte sich zutiefst. Keinesfalls hatte sie stehlen wollen! Sie hatte einfach vergessen, dass sie Waren in ihre Einkaufstasche gepackt hatte.
Das Lebensalter der Menschen steigt. Damit nehmen die Fälle von Demenz zu. Der Weltgesundheitsorganisation zufolge sind derzeit weltweit 50 Millionen Menschen daran erkrankt. Die Zahl soll sich in dreißig Jahren verdreifachen. In Deutschland gelten 1,7 Millionen Bewohner als demenzkrank; bis 2050 sollen es 3 Millionen sein (Österreich: 130 000; 240 000. Schweiz: 151 000; 300 000 im Jahr 2040). Das Beispiel vom Supermarkt zeigt, dass sich die Gesellschaft trotz des dramatischen Anstiegs noch kaum auf Menschen mit Demenz eingestellt hat. Nur in wenigen Kaufhäusern dürfen Mitarbeiter sich Zeit nehmen, wenn den Kunden die Bezeichnung nicht einfällt von dem, was sie besorgen wollten. In Augsburg versuchen seit 2007 ehrenamtliche „Demenzpaten“ Geschäftsleuten die Anzeichen der Krankheit und einen verständnisvollen Umgang mit desorientierten Menschen nahezubringen. Sie bieten Schulungen an, unter anderem für Schulklassen und die Polizei. Die Stadtsparkasse hat ebenfalls Demenzpaten als Mitarbeiter, weil Kunden auf einmal ihre Kontoauszüge nicht mehr verstehen. Oder Geld abheben, sich aber schon beim Verlassen der Filiale nicht mehr daran erinnern.
Unter Demenz versteht man ein Bündel von Symptomen: Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Orientierungssinn, Sprache, Denk- und Auffassungsvermögen – mehrere geistige Fähigkeiten verschlechtern sich und bewirken, dass die Person alltägliche Tätigkeiten nicht mehr wie gewohnt ausführen kann. Es beginnt zumeist unauffällig. Womit, hängt auch davon ab, welche Hirnregion betroffen ist. Oft lässt zunächst die Konzentrationsfähigkeit nach. Es fällt schwerer, mehrere Dinge parallel zu erledigen, Probleme rasch zu erkennen und anzupacken. Man fühlt sich abends grundlos kaputt. Erst später häufen sich Wortfindungsstörungen und das Kurzzeitgedächtnis lässt nach. Diese Phänomene bemerkt die Person meist selbst, bevor sie anderen auffallen. Mit der Zeit können sich das soziale Verhalten, die Gefühlswelt und der Bezug zur Wirklichkeit verändern. Bis hin zum völligen Verlust der Selbstständigkeit.
Eine Demenz kann über hundert verschiedene Ursachen haben. 80 bis 90 Prozent der Demenzerkrankungen gehören zu den primären Formen, die bisher nicht heilbar sind. Gehirnzellen werden ohne erkennbare Ursachen geschädigt. Zu den drei wichtigsten primären Demenzen gehört die Alzheimer-Krankheit, die über 60 Prozent der Fälle ausmacht. Die Erkrankung des Stirnhirns oder Frontallappendemenz kann eine starke Änderung des Sozialverhaltens und der Persönlichkeit hervorrufen. Die Lewy-Körperchen-Krankheit oder Lewy-Body-Demenz beginnt mit Störungen im Tag-Nacht-Rhythmus und Halluzinationen, die den Anschein erwecken können, unter Alkohol oder Drogen zu stehen. Diese Form kann die Person schnell zum Pflegefall machen und auch zusammen mit der Parkinson-Krankheit vorkommen.

Illustration: (c) Jimmy Vee (iStock)

Als sekundäre Formen werden Demenzerkrankungen bezeichnet, bei denen der geistige Verfall Folge einer anderen organischen Erkrankung ist: Bluthochdruck, die Zuckerkrankheit, erhöhte Blutfettwerte und Rauchen können die Blutgefäße im Gehirn verengen, sodass Hirnregionen nicht mehr genügend mit Sauerstoff versorgt werden. Demenzen können verursacht sein von Schädelverletzungen, Tumoren, Infektionen, Stoffwechsel- oder neurologischen Krankheiten, Vitamin- oder Hormonmangel oder einem gestörten Abfluss des Nervenwassers im Gehirn. Sie können auch als Folge von übermäßigem Alkohol- oder Drogenkonsum, Depressionen oder Aids im Spätstadium auftreten. Die sekundären Formen machen nur 10 bis 20 Prozent der Demenzen aus; bei einem Teil besteht die Chance auf Heilung.
Je älter ein Mensch, desto wahrscheinlicher eine Demenz: Bei den 70- bis 74-Jährigen in Europa sind weniger als 4 Prozent betroffen, in der Altersgruppe von 80 bis 84 Jahren über 15 Prozent, bei den über
90-Jährigen mehr als 40 Prozent. Selten treten Symptome schon zwischen 30 und 60 Jahren auf; meist handelt es sich dann um eine vererbbare Alzheimer-Variante.
Bei den primären Demenzen wie Alzheimer können Medikamente bisher bestenfalls die geistige Leistungsfähigkeit bis zu einem Jahr aufrechterhalten. Die meisten Erkrankungen beginnen aber bereits zwanzig bis dreißig Jahre, bevor sich Symptome zeigen. Daher erhoffen sich Wissenschaftler Fortschritte von besseren Diagnose- und Früherkennungsverfahren.
Jahrzehntelang habe sich die Forschung auf Eiweiß-Ablagerungen im Gehirn konzentriert, die die Nervenzellen schädigen, sagte der Bonner Neurologe Michael Heneka vor einigen Monaten der Katholischen Nachrichtenagentur: „Mittlerweile gehen wir aber von einem pathologischen Dreigestirn aus“, nämlich Ablagerungen außerhalb der Zellen, Eiweißverklumpungen innerhalb der Zellen und Fehlfunktionen des Immunsystems. Die drei Faktoren reagieren offenbar über Jahrzehnte miteinander. Deshalb sei es wichtig, die ganz frühe Phase der Erkrankung besser zu verstehen, so Heneka. Er rechnet damit, dass in den kommenden zwanzig Jahren ein Medikament entwickelt wird, das den Verlauf von Demenzerkrankungen zumindest weiter verlangsamt.
Bis dahin ist es ein weiter Weg. Aber schon jetzt kann die Gesellschaft Menschen mit Demenz mehr Verständnis entgegenbringen und ihre Lebenszeit so angenehm wie möglich machen. Und die Angehörigen stärker unterstützen. Denn noch immer ist das Thema schambehaftet: Man spricht es nicht an, wenn man selbst oder ein naher Verwandter eine Demenz hat. Am 21. September ist Welt-Alzheimertag. Um dieses Datum herum begeht Deutschland zudem die „Woche der Demenz“, in diesem Jahr unter dem Motto „Einander offen begegnen“. Beide Ereignisse werden Anlässe bieten, sich eingehender über Demenz zu informieren und offener darüber zu sprechen.
Clemens Behr

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September/Oktober 2019)
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