20. November 2019

Der andere: Geschenk für mich

Von nst5

Gerda Schwinger lebt mit ihrem Mann in Wien in einer Hausgemeinschaft mit mehreren Parteien. Nicht nur dort findet sie immer wieder Gelegenheiten, etwas von sich zu schenken: Zeit, Geduld, Zuhören, Fantasie und vieles mehr. Sie ist Mutter von vier Kindern und hat sieben Enkelkinder.

Schon sehr lange begleitet mich die Aussage von Chiara Lubich: „Jeder Nächste ist geschaffen als Geschenk der Liebe für mich; ich bin geschaffen als Geschenk für ihn“. Freilich ist es dann im Alltag manchmal eine Herausforderung, dieses Geschenk zu entdecken, es entgegenzunehmen. Manchmal braucht es Zeit und Geduld und manchmal auch eine ganz bewusste Entscheidung, mich dem, der anderen zuzuwenden, mich gleichsam auf eine Schatzsuche zu machen, mich nicht vom ersten Eindruck oder auch mehreren negativen Erfahrungen abhalten zu lassen, immer wieder nach dem Gold im anderen zu schürfen, das oft erst in einer echten tiefen Begegnung aufblitzen kann.
So wohnte vor kurzer Zeit noch im selben Haus eine muslimische Familie mit drei Kindern. Es gab von Anfang an große Schwierigkeiten mit ihnen. Mann und Frau begannen erst mit den Sprachkursen, der ältere Schüler (zehn Jahre) fungierte zwar als Dolmetscher, wir wussten jedoch nicht, was er übersetzt. Sich an die Hausordnung zu halten, war ihnen unmöglich. Alle Hausbewohner spürten stark die andere Kultur.
Öfters traf ich die Mutter im Stiegenhaus, wenn wir beide am Weggehen waren. Sie hatte immer ein wunderschönes weiß-glänzendes Kopftuch auf. Da lief immer der gleiche „Dialog“ ab: „Wie geht es Ihnen?“ „Danke gut.“ „Ich gehe zum Sprachkurs.“ „Ich fahre zur Chorprobe.“ „Alles Gute!“ „Alles Gute!“
Nach langer Zeit war mir das zu wenig. Ich überlegte immer öfter, wie sich das ändern könnte, was ich unternehmen könnte, damit mehr Beziehung entsteht. Bis mir plötzlich eine Idee kam. Eines Tages nahm ich ein großes Kopftuch und läutete an der Wohnungstür der Familie. Die Frau öffnete selbst und ich fragte, ob sie Zeit hätte, mir zu zeigen, wie sie ihr Kopftuch bindet. Wir blieben im Vorraum vor einem großen Spiegel stehen. Die Tür zum Wohnzimmer ging auf und der Mann mit der kleinen Tochter erschien. Sie beobachteten mit Freude, was geschah. Die Mutter zeigte mir mit ihrem Tuch die Grundbegriffe. Zuletzt versuchte ich es unter ihrer Anleitung selber. Die schön verzierte Nadel könne ich behalten. Wir brauchten dazu keine Sprache. An ihre Stelle trat ein Lächeln, ein Nicken, eine Aufforderung mit der Hand. Mit meinem Tuch am Kopf verabschiedete ich mich mit Dank und der Ankündigung, dass ich mich so meinem Mann zeigen würde.
Zu unserem großen Erstaunen läutete die Frau am nächsten Tag an unserer Wohnungstür. Sie trat ganz schnell ein, mit einem großen Sack in der Hand, voll wunderschöner Tücher. Ich solle mir bitte welche aussuchen. Ich aber konnte mich nicht entschließen: „Die brauchen Sie doch selbst!“ „Ja glauben Sie denn, ich gebe ihnen etwas, was ich nicht mehr brauche!“ So wählte ich zwei. Sofort nahm sie eines, faltete es und drapierte es um meinen Hals, wie wir es hier gewohnt sind.
Das wurde zur Basis all unserer weiteren Begegnungen. Wir hatten gleichsam durch die verschiedenen Schichten der Verpackung – fehlende gemeinsame Sprache, andere Kultur und Gewohnheiten, miteinander gemachte (auch ungute) Erfahrungen – hindurch zum Geschenk gefunden, das eine für die andere war eine gegenseitige Bereicherung.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November/ Dezember 2019)
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