Gesellschaft, die nicht schenkt, erkaltet.
Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft, sagt man. Aber macht Schenken noch Sinn in einer Gesellschaft, wo viele alles haben? Und wenn ja, welchen? Das fragen wir den Sozialethiker Thomas Wallimann-Sasaki aus Zürich.
Herr Wallimann-Sasaki, das Schenken scheint es in allen Kulturen und schon seit langer Zeit zu geben.
Ja. In den 1920er-Jahren hat der französische Soziologe und
Ethnologe Marcel Mauss eine berühmte Studie dazu veröffentlicht. In „Die Gabe“
beschreibt er den Austausch in archaischen, frühzeitlichen Gesellschaften als ein
umfassendes gesellschaftliches Geschehen, das über rein wirtschaftliches
Tauschen hinausgeht. Auch die scheinbar freie Gabe ist Teil einer Tauschbeziehung,
denn eine Gabe musste mit einer Gegengabe erwidert werden. Manchmal sofort,
manchmal erst Monate später.
Was hat er daraus abgeleitet?
Dass sich in der Gabe Person und Sachen mischen, man beim Geben einen Teil von sich gibt und im Nehmen der Gabe eine Fremderfahrung des Anderen macht. Mauss untersucht diese Vermischung nicht nur in fremden Kulturen, sondern auch in unterschiedlichen europäischen Rechtssystemen bei Römern oder Germanen, um schließlich auf die gegenwärtigen Gesellschaften überzuleiten.
Schon in archaischen Gesellschaften hat damit die Gabe sozusagen eine moralische Dimension, die bis heute damit verbunden ist. Mit der Annahme verpflichte ich mich, zurückzugeben, auf die eine oder andere Weise „Danke“ zu sagen. Mauss beschreibt, wie dieses Prinzip die ganze Gesellschaft durchzieht und verbindet; auch Dienstleistung, Arbeit, Sozialstaat und Wohlfahrt. Er benutzte hierfür erstmals den Begriff der „Schenkökonomie“ 1.
Welche soziale Bedeutung hat das Schenken?
Es hat mit unserem Verständnis zu tun, dass und wie wir
zusammen gehören. Gleichzeitig bringt man sich selber ein, sagt etwas über sich
selber aus, ist jemand. Ein Beispiel: Ich habe eine Kollegin, die finanziell
nicht so gut gestellt ist. Nun gehört es bei uns in der Schweiz dazu, ins Café zu
gehen, und alles kostet ein kleines Vermögen. Die fünf Franken auch für ihren
Kaffee kann ich gut bezahlen und tue das, weil wir als Kollegen zusammengehören.
Für sie ist das relativ viel. Gleichwohl lasse ich mich von Zeit zu Zeit
einladen. Ich merke, wie sie Anerkennung erfährt, wenn ich „Danke“ sage. Schenken
heißt auch, ich zeige mich als eigenständige Person. Es laufen also im
Hintergrund verschiedene Aussagen zu Beziehungsverhältnissen ab und vermischen
sich in der Handlung des Schenkens.
Dabei hat man ja die Vorstellung, es gehe darum, zu geben, ohne etwas zu erwarten.
Das gibt es natürlich auch. Aber oft ist es doch vielschichtiger. Wir sind eben Menschen! Selbst die Almosentradition im Christentum oder auch Islam hängt damit zusammen, dass man sich erlöst, gerettet weiß und aus diesem Status heraus – aus Dank! – geben kann und soll.
Ich glaube tatsächlich, dass das einzige, was wirklich ohne Bedingung gegeben wird, die Gnade Gottes ist. Der einzige, der ohne Hintergedanken gibt, ist Gott. Erlösung ist – nach Paulus – Gnade pur und ohne Gegenleistung geschenkt. Provokant könnte man sagen: Um in den Himmel zu kommen, muss ich nicht ein einziges Mal in die Kirche gehen. Ich tue es trotzdem – eben weil ich gerettet bin und meine Dankbarkeit dafür zum Ausdruck bringen möchte. Der Hauptgrund ist also „Danke“ sagen.
So könnte man das Bemühen um „absichtsloses Geben“ vielleicht
als eine Art Nachahmung verstehen: so schenken wie Gott, ohne Hintergedanken. Solches
Schenken wäre dann ein Hauch von Gottebenbildlichkeit. Aber in kulturellen und
sozialen Bezügen wird Schenken kaum so gelebt. Dort findet man sich mit
absichtslosem Schenken zwischen zwei Gefahren: entweder man wird ausgenutzt
oder das Geschenk bewirkt nicht, was beabsichtigt wurde, ist dann wie
hingeworfen.
Kommt „reines“ Schenken dann gar nicht vor?
Doch, sicher. Wenn jemand geben kann, ohne dass er sich fragen muss, ob es ihm nützt, ist das ein sehr schöner Charakterzug. Aber da wir auf der Erde und nicht im Himmel leben, muss man auch mit der Boshaftigkeit der Umwelt leben.
Ich würde sagen: Großzügigkeit ist die gute Mitte. Aber sie kann auf der einen Seite zur Verschwendung tendieren, auf der anderen zur Naivität. Beides ist problematisch. Wir sind eben unvollkommene Menschen und machen Fehler. Deshalb dürfen wir, auch wenn wir großzügig sind, immer auch unseren Kopf einschalten und über das richtige Maß nachdenken.
Es gibt eine relativ neue Bewegung des „effektiven Altruismus“ 2. Sie beruht auf zwei Prinzipien: Einerseits lässt man sich berühren von der Not der Mitmenschen, möchte helfen, etwas geben. Allerdings soll das dann auch auf seine Effektivität – also Wirksamkeit – geprüft werden; man möchte mit den knappen Mitteln, die man zu verschenken hat, den größtmöglichen, guten Nutzen erzielen.
Ich habe für dieses Denken viel Verständnis; es nimmt uns als denkende Menschen ernst und weitet den Blick auf die Folgen von Schenken weit über den unmittelbaren Nahbereich hinaus. Hingegen muss vom Standpunkt einer gnadenorientierten Ethik das Schenken nicht immer nur messbar, vernünftig und nutzenorientiert sein. Wenn Gott auf den Nutzen seiner Gnadengeschenke bei uns Menschen schauen würde, hätte er uns schon lange nicht mehr unterstützt. Die Geschichten v. a. im Alten Testament legen immer wieder Zeugnis davon ab.
Dieses Bewusstsein kann uns auch heute herausfordern, den bestehenden
Zyklen des Schenkens mit etwas Vorsicht zu begegnen. Die scheinbaren
Gesetzmäßigkeiten um Gabe und Gegengabe haben wir ja selbst geschaffen und
können sie auch durchbrechen.
Aber es geht immer um das rechte Maß?
Ja, denn Schenken ist viel komplexer als uns auf den ersten Blick scheint. Es verbindet uns Menschen, sagt etwas darüber, wie wir das Zusammenleben gestalten. Wir bringen damit auch Anerkennung zum Ausdruck und wie wir Beziehung verstehen.
Wenn mir jemand etwas schenkt – eine Kerze – ist es ein
Zeichen der Anerkennung. Ich bedanke mich und vielleicht schenke ich bei einer
anderen Gelegenheit etwas zurück. Aber wenn das Geschenk zu groß wird, nicht in
einem vernünftigen Verhältnis zur Beziehungsform steht, in der wir uns befinden,
fühlen wir uns unwohl, werden vielleicht sogar misstrauisch und sagen uns: „Da
stimmt was nicht.“ Wenn meine Bank mir ein Auto schenkt, weil ich bei ihr eine
Hypothek für mein Einfamilienhaus habe, stimmt etwas nicht. Wenn sie mich aber
als guten Kunden zu einem Konzert einlädt, kann ich das einigermaßen nachvollziehen.
Man kann in diesem Sinn auch „falsch“ schenken, nicht der Beziehung
entsprechend. Und man kann natürlich Abhängigkeiten schaffen, moralische
Verpflichtungen, wenn man in Vorleistung geht und der andere das Geschenk
annimmt. Wir sprechen dann ja auch von Korruption.
Kommen wir noch mal auf das Persönliche: Manchmal ist man enttäuscht, weil der Gebende sich scheinbar keine Gedanken gemacht hat.
(lacht) Ja. Männer bekommen eine Flasche Rotwein und Frauen einen Blumenstrauß. Das Geschenk festigt Rollenverständnisse.
Charakteristisch fürs Schenken ist: Es ist eine
Beziehungsangelegenheit und damit personenbezogen. Das Geschenk hat darum nicht
nur eine materielle Dimension, sondern auch eine symbolische. Es steht also für
etwas, was es selber gar nicht ist. Das 0815-Geschenk steht dann eben auch für
eine 0815-Beziehung. Oder für die Intention des Schenkenden, obwohl diese
vielleicht gar nicht stimmt.
Wie meinen Sie das?
Ein Kollege hat bei jeder Generalversammlung immer dieselbe kleine
Flasche aus dem Großhandel geschenkt. Alle wussten, dass das kommt und alle
haben immer dasselbe bekommen. Aber weil wir ihn kannten, wussten wir, dass das
seine Art ist, Dank auszudrücken, ohne den Verein durch hohe Geschenkkosten zu
sehr zu belasten. Hätte das ein anderer gemacht, wäre es ein Affront gewesen.
Aber wir kannten ihn, seine Persönlichkeit und wussten um seine Intention. Ohne
es zu wissen hat er ja auch noch anderes gesagt: Alle sind gleich; der Einsatz
ist so oder so wertvoll – und damit etwas von dem zum Ausdruck gebracht, was
Gnade ist: einfach geschenkt!
Könnten Sie sich eine Gesellschaft vorstellen, wo man auf Schenken völlig verzichtet?
Keinesfalls. Das wäre eine Roboter-Gesellschaft, diese braucht keine Geschenke, nur Strom! (lacht) Ich denke, Schenken hat ganz wesentlich mit der Wärme zwischen uns Menschen zu tun. Eine Gesellschaft, die nicht mehr schenkt, erkaltet. Weil sie dann alles auf den rationalen Tausch reduziert, auf Kauf und Verkauf.
Das Schenken ist etwas unglaublich Fundamentales in Bezug auf die Beziehungsfähigkeit und -gestaltung des Menschen. Man riskiert sich dabei als Schenkende – und bindet sich, wenn man schenkt wie auch wenn man empfängt. Man geht eine Bindung ein. Nicht zuletzt deshalb wirkt es auch so verletzend, wenn Geschenke zurückgegeben oder nicht gewürdigt werden.
Deshalb muss auch beim Schenken immer wieder das rechte Maß
gefunden werden, müssen Schenken wie Empfangen geübt werden, weil wir alles
andere als ideal sind. Denn Schenken ist etwas, das uns Menschen zu Menschen
macht.
Herzlichen Dank für das anregende Gespräch!
Gabi Ballweg
Thomas Wallimann-Sasaki
1965, ist Theologe und Sozialethiker. Er leitet das Institut für Sozialethik «ethik22» in Zürich. Der Arbeitsschwerpunkt liegt auf gesellschaftlichen Fragen in Politik, Wirtschaft und Kirche und deren Gestaltung aus christlicher sozialethischer Perspektive. Ehrenamtlich ist er seit 2013 Präsident der bischöflichen sozialethischen Kommission „ Justitia et Pax “. Ausgleich und Inspiration findet Wallimann beim Musizieren, Velofahren und Bergsteigen.
1 Schenkökonomie, auch „Kultur des Schenkens“, bezeichnet eine soziologische Theorie, die den Gabentausch vom Warentausch unterscheidet.
2 www.effektiveraltruismus.de
(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November/ Dezember 2019)
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