20. November 2019

Schenken kann, wer um seine Würde weiß

Von nst5

Luigino Bruni ist Professor für Wirtschaftspolitik in Rom. Er schreibt Leitartikel für die Tageszeitung „ Avvenire “, ist internationaler Koordinator der Initiative „ Wirtschaft in Gemeinschaft “ und lehrt am Universitätsinstitut SOPHIA in Loppiano (Florenz).

Diesen Sommer besuchte ich die Kathedrale von Salerno. Am Eingang traf ich einen jungen Mann, der um Almosen bat. Spontan fragte ich: „Warum gibst du den Touristen nicht ein paar Informationen über die Kirche, da du ja jeden Tag hier sitzt?“ Zunächst antwortete er nicht. Ich machte meinen Rundgang (ein wenig schnell) und als ich zurückkam, sagte er zu mir: „Aber hast du die Krypta nicht gesehen? Da verpasst du das Schönste.“ Er hatte mich wohl beobachtet.
Ich ging zurück in die Krypta – ihre Schönheit verschlug mir die Sprache. Als ich ging, dankte ich ihm und gab ihm ein Trinkgeld. Er gab mir weitere Hinweise: „Schau dir den Eingang an: Da ist eine bedeutende Skulptur.“; „Achte auf das Portal, es wurde in Konstantinopel gemacht.“ Alles Informationen, die er aufgeschnappt hatte, während er da saß.
Danach fragte ich mich: Wer weiß, ob ich der Erste war, der diesen jungen Mann etwas gefragt hat, ihn ernst genommen und eingeladen hat, eine „Haltung der Gegenseitigkeit“ einzunehmen. Ich überlegte, was er wohl gedacht haben könnte: „Dieser Herr, der mich um Informationen bat, sieht mich nicht nur als ‚Ausrangierten’, als einen, der nur seine Hand ausstreckt. Er hat mich wie eine Person behandelt.“
Das einzige, was ich getan hatte, war, auf den Menschen zu achten und ihn als solchen zu erkennen: den jungen Immigranten, bei dem ich mehr vermutete als das, was sich auf den ersten Blick zeigte. Und ich verstand, dass er älter war als seine Bitte um Almosen, vorher sicher anderes gemacht hatte. Aber vielleicht erinnerte nicht einmal er selbst sich noch daran.
Menschen müssen gesehen werden, damit sie aktiv werden, etwas einbringen können. Ohne diesen anerkennenden Blick stehen sie nicht auf, besonders wenn sie seit Jahren „sitzen“. In der Regel stehen Menschen erst dann auf, wenn sie in der Beziehung zu jemandem erkennen, dass sie selbst auch etwas zu geben haben.
Eines der Probleme mit der Armut ist der Gedanke, dass ihre Lösung mit Empfangen zu tun hat. Stattdessen kommt man aus der Armutsfalle erst, wenn man in die Lage versetzt wird, jemandem etwas zu geben; echte Hilfe ist die, die dem anderen die Würde lässt, selbst etwas zu geben. Hingegen sehen wir die offene Hand so, als könne sie nur empfangen, und vergessen, dass diese Hand viel mehr geben kann.
Angesichts der Menschen in Not müssten die Bemühungen der Regierungen und Organisationen vor allem darauf ausgerichtet sein, ihnen zu helfen, aufzustehen und in Beziehungen der Gegenseitigkeit auch selbst etwas zu geben. Aber dafür müssen sie sie als Menschen wahrnehmen, die etwas zu geben haben.
Wenn ich diesen Mann nicht getroffen hätte, wenn ich beim Betreten dieses „heiligen Ortes“ nicht verstanden hätte, dass an der Tür etwas Heiligeres war als der Ort, den ich besuchen wollte (nichts auf der Welt ist heiliger als ein Mensch), ich hätte den Schatz dieser Kirche – die Krypta – nicht gesehen, hätte nicht die Person getroffen und diesen Artikel nicht geschrieben. Aber zuerst musste ich ihn sehen. Die erste Armut der Armen besteht darin, nicht gesehen zu werden; sie werden unsichtbar, wir sehen nur ihre Oberfläche und bleiben an der äußeren Hülle stehen. Wer weiß, wie viele wunderschöne „Krypten“ wir so jeden Tag verpassen?!

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November/ Dezember 2019)
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