23. Januar 2020

Die Rolle der Frauen in Kirche und Gesellschaft

Von nst5

Standpunkt

Die Frage, welche Impulse Chiara Lubich und ihr Charisma im Blick auf die Rolle der Frauen in Kirche und Gesellschaft heute geben können, ist nicht einfach und eindimensional zu beantworten. Eine aktuelle Debatte mag dies verdeutlichen: Würde Chiara eine Initiative „Maria 2.0“ unterstützen, die sich für die Gleichstellung von Frauen und Männern einsetzt, eine Veränderung der gegebenen Machtstrukturen ebenso fordert wie den Zugang von Frauen zu allen kirchlichen Ämtern und die Abschaffung des Pflichtzölibats? Eine Initiative, deren Name zum Ausdruck bringen will, dass „Maria 1.0“ als Idealbild der schweigenden und dienenden Rolle von Frauen ausgedient hat und ein Neuanfang notwendig ist, eine erneuerte geschwisterliche Kirche, in der „das Wort Jesu nicht nur verkündet, sondern auch gelebt“ wird, in der „der Mensch, jeder so, wie er ist, geliebt“ wird, wie Andrea Voß-Frick formuliert? 1 Oder würde sie sich eher mit jenen Frauen solidarisieren, die als Gegenreaktion formulierten: „Makellose Jungfrau. Unsere Maria Mutter Gottes braucht kein Update!“ 2. Ich vermute, Chiara würde sich gegen eine Vereinnahmung von beiden Seiten wehren – und vielleicht wäre sie gerade so in der Lage, Brücken des Dialogs zwischen den Lagern zu bauen.
Gegenüber den Frauen von „Maria 1.0“ würde sie vielleicht mit Teresa von Ávila und Thérèse von Lisieux auf die vielfältige Problematik einer von Männern dominierten Kirche hinweisen. Doch welche Haltung würde sie zur Frauenordination einnehmen? Immerhin war Gleichheit der Geschlechter im Sinne eines gleichen Zugangs zu Ämtern und Diensten der Kirche für sie zu Lebzeiten nicht denkbar, zu groß war ihre Furcht vor einem Verlust genuin weiblicher Züge. Im Blick auf „Maria 2.0“ würde sie sicher das Anliegen einer erneuerten, inklusiven und geschwisterlichen Kirche unterstützen, ist doch die Liebe (und nicht das Amt) das Entscheidende für sie. Würde sie heute aber vielleicht noch vehementer als damals für eine veränderte Machtverteilung in der gesamten Kirche (und auch in der Gesellschaft) eintreten? Schließlich hat sie sich für die Bewegung ausbedungen, dass immer einer Frau die Führungsrolle zukommt, die sie – durchaus partnerschaftlich – gemeinsam mit dem männlichen Kopräsidenten ausübt. Würde sie eine solche „machtpolitische Absicherung“ der Position von Frauen auch gesamtkirchlich fordern, damit das „charismatisch-marianische“ Element nicht allzu rasch dem „hierarchisch-petrinischen“ untergeordnet wird?
Apropos marianisch-petrinisch: Vielleicht würde Chiara heute ihre Geschlechtertheorie mit deren Zuschreibungen von Lebensvorstellungen überdenken. Ihr ganzes Leben hindurch hat sich Chiara und mit ihr die Bewegung immer wieder herausfordern lassen, eigene Vorstellungen loszulassen und im Hören auf andere deren tiefere Wahrheit zu entdecken. Vielleicht würde sie heute im Dialog mit fürsorglichen Männern und machtbewussten Frauen zur Überzeugung gelangen, dass sowohl die Kirche als auch die Gesellschaft das „petrinische“ und das „marianische“ Element brauchen, dass diese beiden Dimensionen aber nicht automatisch dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugeordnet werden können. Und dass in der Folge auch die Zulassungsbedingungen zu kirchlichen Diensten und Ämtern neu zu überdenken und mehr gemäß dem jeweiligen Charisma als gemäß dem jeweiligen Geschlecht zu übertragen wären.

1 www.mariazweipunktnull.de
2 https://mariaeinspunktnull.de

Petra Steinmair-Pösel
Jg. 1975, Studium der Philosophie und Theologie, leitet derzeit das Institut für Religionspädagogische Bildung in Feldkirch. In ihrer Habilitation beschäftigte sie sich intensiv damit, was Christliche Soziallehre von M. Maria Skobtsova, Dorothee Sölle und Chiara Lubich lernen kann.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2020)
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