22. Mai 2020

Passiert

Von nst5

Aus dem Leben mit dem Wort

Ich liege auf dem Untersuchungstisch. Ein Zugang ist gelegt, der Blutdruckmesser auch. Es piept alle paar Momente. Aber sonst passiert nichts. Ab und zu höre ich die Krankenschwestern draußen sprechen. Gefühlte zehn Minuten vergehen. Ich werde ungeduldig, ungehalten. Negative Gedanken steigen hoch: Ich werde mich beim Arzt beschweren. Dann erinnere ich mich: Kurz vor dem Termin hatte ich noch tolle Gedanken über den gut gelebten Augenblick gelesen. Ganz langsam merke ich, dass sich meine Gedanken in eine andere Richtung bewegen. Ich will nicht negativ blockiert sein und fange an, für den Arzt, die Schwestern und die anderen Patienten zu beten. Als der Arzt kommt, kann ich ihm fröhlich auf seine Fragen antworten.
G.W.

Einen Großteil meiner Zeit verbringe ich am Telefon; mit Menschen, die wissen, dass ich in meinem Rollstuhl nicht weglaufe, sondern da bin, wenn sie jemanden brauchen, der ihnen zuhört und teilnimmt an dem, was sie schmerzt oder was sie erfreut. Es geschieht nicht selten, dass jemand eine halbe oder ganze Stunde spricht, ohne dass ich ein einziges Wort sage und sich am Schluss für das „Gespräch“ bedankt, weil es ihm weitergeholfen habe. Für mich ist es jedes Mal die Entscheidung, das Eigene zu lassen, um ganz im Dienst am anderen zu leben. Dabei hilft mir ein Wort von Chiara Lubich: „Jeder ist geschaffen als Geschenk für die anderen.“
R.B.

Ich hatte meinen langen Schultag – unterrichten von früh morgens bis 16 Uhr. Dazwischen fuhr ich in einer Pause über Mittag in die Innenstadt. Weil ich so einen Hunger hatte, beschloss ich, mir beim Bäcker etwas Leckeres zu kaufen, um es dann in der Schule zu verzehren. Beim Warten auf die Straßenbahn sprach mich ein junger, recht verwahrloster Mann verstohlen an, dass er Hunger hätte. Ich hab’s ihm abgenommen. Mir war, als ob Jesus mich um etwas bat. Ich griff in meine Tasche, gab ihm meine eben erstandene Jause und wünschte ihm noch alles Gute. Er nahm sie freudig entgegen und verschwand sofort in der Menge. Und ich empfand ein großes „Glücksgefühl“, Jesus begegnet zu sein.
E.S.

Es war eine seltsame Situation: Ich betete jeden Tag, besuchte regelmäßig die Messe, engagierte mich mit Werken der Nächstenliebe und doch hatte ich keinen lebendigen Glauben. Es war, als wäre da ein Schleier. Eines Tages begleitete ich meine Großmutter zum Arzt; dabei erzählte ich von meiner Situation. Sie sah mir in die Augen: „Und das, was du tust, tust du es für dich oder für andere?“ Die einfache Frage hat mich sehr nachdenklich gemacht. Ich bemerkte, dass ich vieles wie eine Pflicht abhakte. Als ich nach einiger Zeit wieder zu einem alten Mann ging, fragte ich ihn ganz bewusst, was ihm am Herzen liegt. Er erzählte mir vom Krieg, den toten Kameraden, der Krankheit seiner Frau. Dann dankte er mir für das „große Geschenk“ meines Besuchs.
U.R.

An Geld, Kleidung und Luxus gewöhnt, musste ich nach der Hochzeit alle Ausgaben drastisch reduzieren. Dann erhielt ich eine zusätzliche Summe von der Arbeit: Ich dachte sofort an das Baby, das wir erwarteten, an die Ausstattung, die ich ihm damit hätte kaufen können. Aber dann erinnerte ich mich, wie viele arme Menschen es in der Stadt gab. So nahmen wir dieses Geld, um einigen von ihnen zu helfen. Zur Geburt unseres Babys erhielten wir viele gebrauchte Kleidungsstücke. Natürlich wäre auch eine ganz neue Aussteuer schön gewesen. Aber das, was wir durch die Liebe anderer erhalten haben, schien uns noch wertvoller und schöner zu sein.
A.S., Venezuela

In unserer kleinen Stadt gibt es wenig Geschäfte, in denen man nicht immer findet, was man braucht. Eines Morgens klopfte eine arme, kranke Nachbarin. Sie bat mich um etwas Öl. Auch ich hatte nur noch sehr wenig. Trotzdem fühlte ich mich gedrängt, ihr alles zu geben. Als ich anfangen wollte, das Mittagessen vorzubereiten, wurde mir bewusst, dass nun ich ohne Öl auskommen musste. Trotzdem bereute ich es nicht. Als ich gerade den Topf nahm, klopfte es an der Tür. Draußen stand eine Ordensschwester, die ich lange nicht mehr gesehen hatte, weil sie in einer weit entfernten Region lebt. Sie forderte mich auf: „Kommen Sie, ich habe etwas für Sie im Auto.“ Sie hatte drei Kisten mit Öl: insgesamt 54 Liter.
G.V. Burundi

Illustration: (c) FrankRamspott (iStock)

Ein junger Migrant hatte an unserer Tür geklopft, um uns Socken zu verkaufen. Wir unterhielten uns und interessierten uns für ihn, als eine Nachbarin von vorbeikam. Ich war überzeugt, dass sie große Vorbehalte gegenüber Migranten hatte. Aber zu meiner Überraschung lud sie ihn ein, auch bei ihr vorbeizukommen, weil sie etwas für ihn hätte. Am nächsten Tag erfuhr ich, dass sie ihm Schuhe und Medikamente gegeben und sich lange mit ihm unterhalten hatte. Da war ich wirklich platt, ich hatte ein völlig falsches Bild von ihr gehabt.
C.V. Italien

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2020)
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