3. Juni 2020

Welche Zukunft wollen wir?

Von nst5

Wie die Digitalisierung das Leben erleichtert, wo manche Tücken liegen und warum wir uns intensiver mit ihr beschäftigen sollten.

Hände waschen. Abstand halten. Wo viele Menschen zusammenkommen, Schutzmasken aufsetzen – wenn vorhanden. Möglichst nicht rausgehen, sondern zu Hause bleiben. – Handlungsanweisungen in Zeiten des Coronavirus: Wir können sie schon nicht mehr hören! Auch wenn klar ist, wie wichtig es ist, sie zu befolgen: Angesteckt werden? Lieber nicht! Auch wollen wir nicht schuld sein, dass sich andere anstecken, sollten wir das Virus unwissentlich doch in uns tragen. Vieles können wir im Netz einkaufen und uns schicken lassen. Anrufe, WhatsApp und ähnliche Online-Dienste helfen, den körperlichen Abstand zu überwinden. An Gottesdiensten können wir über Fernseher oder Internetstreams teilnehmen. Bekannte Sportler bieten Trainingseinheiten an, bei denen man live über Internet mitmachen kann. Auch Schulen und Universitäten versuchen, den Lehrbetrieb über digitale Kanäle aufrechtzuerhalten. Anbieter von Videokonferenzen wie Skype und Zoom erleben Boom-Zeiten. Auch Behörden bieten ihre Dienste vermehrt online an. Museen laden zu virtuellen Rundgängen ein. Bibliotheken bieten die Ausleihe von E-Books, E-Paper und elektronischen Audio- und Videodateien an. – Alles Hilfsmittel, die die Einschränkungen erträglicher machen. In Corona-Zeiten schätzen wir vor allem die digitalen Möglichkeiten, uns zu versorgen, miteinander in Verbindung zu treten und zu kommunizieren.

Illustration: (c) hisa nishiya (iStock.com)

Aber digitale Technologie kennt viel mehr Anwendungsbereiche. In der Medizin will man sie nutzen, um Erkrankungen wie zum Beispiel Gehirntumore besser zu erkennen. Roboter können komplizierte Operationen präziser als Chirurgen ausführen. Künstliche Intelligenz ermöglicht, dass Autos autonom fahren. Noch sind dafür die rechtlichen Rahmenbedingungen nicht geklärt. Ließe unsere Gesellschaft den Gütertransport auf der Straße mit autonom fahrenden Lastwagen zu, müsste sie sich auch fragen, wie sie die dann arbeitslosen LKW-Fahrer beschäftigen will. Die Digitalisierung verändert die Arbeitswelt. Im „Homeoffice“ zu arbeiten, kann familienfreundlich sein, bedeuten, mehr Zeit für die Kinder zu haben. Es kann aber auch eine zusätzliche Belastung werden, weil sich Arbeit und Freizeit nicht mehr klar abgrenzen lassen, wenn beides am gleichen Ort stattfindet. Kontrollmechanismen können dann als Bevormundung empfunden werden, sie können aber auch die im eigenen Heim arbeitende Person davor schützen, dass ihr Arbeitgeber sie ausnutzt.
Künstliche Intelligenz erkennt Sprache und Gesichter. Sie kann helfen, Menschen fremder Sprachen zu verstehen und sich mit ihnen zu unterhalten. Sprachassistenten wie Alexa, Siri und Google Assistant fischen auf die Fragen ihrer Nutzer passende Antworten aus dem Internet. Auf Sprachbefehle hin verschicken sie Nachrichten, sehen im Kalender nach, tätigen Anrufe und bedienen elektronische Geräte. Wirkt sich das auf unseren Umgang miteinander aus, wenn wir diesen Hilfsmitteln, die wir wie unsere Mitmenschen mit einem Namen ansprechen, wie einem Sklaven Befehle erteilen?
Schon heute nutzen Unternehmen digitale Systeme, die Bewerbungsgespräche sprachpsychologisch auswerten und die Ergebnisse in die Auswahl der Kandidaten einfließen lassen. Wie bei vielen anderen digitalen Anwendungen auch, die Entscheidungen mit Auswirkungen auf das Schicksal von Personen beeinflussen, stellt sich die Frage nach der Transparenz: Inwiefern werden die Kriterien offengelegt, nach denen eine Software analysiert, Ergebnisse liefert und Empfehlungen abgibt? Oder bleiben sie als „Betriebsgeheimnis“ für die betroffenen Personen nicht nachvollziehbar?
Mit einer Gesichtserkennung lassen sich Smartphones verschlüsseln und sicherer machen. Sie kann eingesetzt werden um festzustellen, wo sich Personen wann bewegen und mit wem sie Kontakt haben. Gesichtserkennung kann genutzt werden, um terroristische Anschläge zu vereiteln; ein diktatorisches Regime kann sie aber auch dazu gebrauchen, unliebsame Bürger zu bespitzeln und auszuschalten.

Illustration: (c) hisa nishiya (iStock.com)

Mit der zunehmenden Digitalisierung stellt sich die Frage, wie wir es schaffen, dass sich die sozialen Unterschiede nicht noch weiter vergrößern: zum einen weltweit zwischen Ländern mit einer im Durchschnitt reichen Bevölkerung und Ländern, in denen Bürger täglich um das Überleben kämpfen müssen. Zum anderen auch innerhalb unserer Gesellschaft: Schon der digitale Unterricht zur Überbrückung der Corona-Pandemie erreicht nicht alle Schüler gleichermaßen. Denn nicht jeder hat einen dafür nötigen Computer zur Verfügung. Schwache Schüler sind in der Gefahr, noch mehr abgehängt zu werden.
Online-Shops, soziale Medien, Navigator-, Gesundheits-Apps und Fitness-Tracker: Digitale Anwendungen brauchen persönliche Daten, um dem User passgenau dienen zu können. Aber wie sicher sind die Daten? Wird mit ihnen Handel getrieben und Geld verdient? Gelangen sie in Hände, die der Nutzer nicht will?
Digitale Kanäle und analoge Welt fließen ineinander über, sind kaum voneinander zu trennen. Flüchtlinge halten mithilfe von Smartphones und digitalen Netzwerken Kontakt mit Daheimgebliebenen und zu Landsleuten im Zielland, bekommen überlebenswichtiges Wissen, verändern ihre Route in Abhängigkeit von Nachrichten über die Bedingungen in Durchgangsländern. Bewegungen wie „Fridays for Future“ organisieren sich über soziale Medien; was darin kreist, kann Meinungen beeinflussen, bis hin zum Wahlverhalten, kann Menschen radikalisieren, aber auch anregen, sich für das Gemeinwohl zu engagieren.
Die Beispiele und Fragestellungen veranschaulichen: Digitalisierung ist nicht nur Fluch oder Segen. Es kommt darauf an, wofür und wie sie genutzt wird. Darüber darf die Debatte in unserer Gesellschaft ruhig noch stärker geführt werden. Denn wir sollten uns rechtzeitig darüber verständigen, wie unsere Zukunft aussehen soll, damit bei der Entwicklung dahin der Mensch – alle Menschen und ihr Wohl – im Zentrum steht.
Clemens Behr

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai/Juni 2020)
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