4. August 2020

Innerer Friede: Bei sich selbst beginnen

Von nst5

Standpunkt

Mein Vater ist indigener Abstammung und kommt aus einer armen Region Brasiliens. Erst mit 18 Jahren lernte er Lesen und Schreiben. Als seine Schwester bei der Geburt ihres Kindes starb, weil sie keine medizinische Hilfe bekam, beschloss er, Arzt zu werden. Er musste jede Menge Schwierigkeiten, Erniedrigungen und auch Hunger überwinden, aber er wurde Chirurg und Gynäkologe.
Durch ihn habe ich gelernt, dass Not und selbst Angst innere und äußere Stärke mobilisieren und dass Krisen den Überlebensinstinkt stärken können; dass es wichtig ist, nicht nur über eine Gefahr nachzudenken, sondern auch über unsere Fähigkeit, auf sie zu reagieren: Vielleicht kann ich eine Situation nicht kontrollieren, aber ich kann lernen, meine Reaktion darauf zu kontrollieren. Ich habe gelernt, vor den Fragen, die das Leben mir stellt, nicht ängstlich zu sein. Die Herausforderungen, denen ich in meinem Leben begegne, sind eine Chance, um zu reifen.
Martin Buber, der große österreichisch-israelische Denker, hat betont, dass es angesichts von Schwierigkeiten ein guter Weg sei zu verstehen, was von mir abhängt, und die Veränderung zu wollen: „Der archimedische Punkt, von dem aus ich an meinem Orte die Welt bewegen kann, ist die Wandlung meiner selbst.“
All das hat viel mehr mit Lebensfreude zu tun, als es scheint. Oder wer hat schon einen Menschen kennengelernt, der mit sich selbst im Unfrieden ist, aber das Leben genießen kann? Wer mit sich selbst versöhnt sein will, muss Zeit und Geduld aufwenden, um die eigene Geschichte zu verstehen und um zu akzeptieren, was geschehen ist und was geschieht. Es ist möglich, man selbst zu werden und über sich selbst hinauszugehen, nicht mehr vor dem Leiden davonzulaufen und darin seine Würde zu erkennen. Oft ist es das Leben selbst, das eine Therapie mit uns macht. Manchmal brauchen wir fachliche Hilfe dazu.
Etwas Neues entsteht im Inneren: ein Verständnis von Grenzen, eine neue Beziehung zum anderen, Werte, Sinnzusammenhänge, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Verbindung bringen.
Meine Mutter, eine einfache, aber weise Frau, hat gut verstanden, dass es auf einen selbst ankommt: „Gratuliere dir selbst jeden Tag für eine gut gemachte Arbeit, und tu‘ es mit Freude und Demut. Die Menschen um dich herum denken vielleicht nicht daran, dich zu ermutigen, so tu‘ es selbst in der Einfachheit des Herzens. Sei dankbar!“
Ich erinnere mich gut an eine Reise von Brasilien nach Europa, die einen Einschnitt in meinem Leben bedeutet hat: 147 Momente habe ich gezählt, in denen ich danken konnte.
Martin Bubers Gedanken zum Weg des Menschen gehen weiter: Man müsse zwar bei sich selbst beginnen, dürfe aber nicht bei sich selbst enden.
Auch hier ist mir mein Vater ein Vorbild. Kurz vor seinem Tod sagte er mir: „Wie gut ist es, das Ende des Lebens zu erreichen und sich glücklich zu fühlen, weil man andere glücklich gemacht hat.“ Wie oft habe ich erlebt, dass eine Geste der Liebe heilende Wirkung im anderen und in sich selbst hat.
Vielleicht ist ja gerade die Zeit der Pandemie eine gute Gelegenheit zu entdecken, wer wir sind, wofür wir leben wollen – und ob wir Freude daran haben.

Foto: privat

Valquíria Gonçalves de Oliveira
ist klinische Psychologin und Psychotherapeutin mit den Schwerpunkten Logotherapie und Existenzanalyse nach Viktor Frankl, EMDR Psychotraumatologie nach Francine Shapiro sowie der ADI/TIP Methode nach Jost de Moraes. Sie lebt im Fokolar und arbeitet in Wien.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2020)
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