3. Dezember 2020

Warum eigentlich immer ich?

Von nst5

„Immer muss ich die dreckigen Kaffeetassen wegräumen!“ – „Warum sehe eigentlich nur ich, dass hier mal geputzt werden müsste?“ Ob in der Familie, der Wohngemeinschaft oder am Arbeitsplatz: Überall, wo Menschen zusammenleben, gibt es solche, denen alles auffällt, und solche, die übersehen, was zu tun wäre. Nicht immer ist es eine Frage des guten Willens, sondern oft auch der Persönlichkeit. Was tun?

Gabriele Marin
Leiterin einer Tageswerkstätte, Kalsdorf bei Graz:
Die Begleitung von Menschen mit Behinderung ist sehr fordernd. „Kleinigkeiten“ am Rande bleiben dabei leicht auf der Strecke: Wer räumt die Wäsche in die Kästen? Wer achtet auf Ordnung im Gruppenraum, im Büro? Wer putzt den Kühlschrank im Sozialraum? Wie in allen Gruppen gibt es auch bei uns jene, denen auffällt, wenn etwas zu erledigen ist und jene, die schlichtweg blind für solche Dinge sind.
In einem bunten Team ist es grundsätzlich gut und bereichernd, wenn wir unterschiedlich ticken. Es kann sein, dass jemand gerne in einem aufgeräumten Büro arbeitet und daher schnell und effizient die Dinge in Ordnung bringen kann. Doch die Grenze ist dort, wo sich jemand ausgenützt fühlt. Wenn Ärger dazu kommt, besteht Handlungsbedarf. Es ist wichtig, dass die anderen Teammitglieder erfahren, wie es mir dabei geht, wenn ich die „ungesehene Arbeit“ erledige. Da geht es nicht um Jammern, sondern darum auszudrücken, welche Gefühle bei mir hochkommen.
Im nächsten Schritt ist Platz für eine konkrete Bitte. Eine Liste mit einer fairen Einteilung der ungeliebten Arbeiten kann eine Hilfe sein. So sind alle in gleicher Weise eingebunden und jene, die viel „sehen“, entlastet.

Andrea Hendrich
Familientherapeutin, Tutzing:
In meiner beratenden Tätigkeit erhalte ich immer wieder solche und ähnliche Fragen. Ich lasse mir dann gerne Zeit, hinter die Kulissen zu blicken. Es kann nämlich für ein- und dasselbe Verhalten unterschiedlichste Ursachen geben.
Wo Menschen zusammentreffen, begegnen sich immer auch verschiedene, teils unbewusste, aber „wirkmächtige“ Lebensgeschichten. Hinter jedem Verhalten oder Nicht-Verhalten stehen Bedürfnisse, Werte, eigene Erfahrungen – und Gefühle.
Für manche sind Sauberkeit und Ordnung hohe Werte, für andere stehen vielleicht Freizeit oder Kinder im Mittelpunkt. Und wenn man Prioritäten setzen muss, kann es schnell zu Konflikten kommen. Vielleicht hat der Mitbewohner aber auch ein Verhalten in seiner Herkunftsfamilie nicht „gelernt“ oder es ist mit negativen Gefühlen besetzt.
Was tun?
Ein ehrliches, vielleicht auch moderiertes Gespräch könnte ein guter Schritt sein: Die Beteiligten dringen von Erwartungshaltungen und Positionen zu ihren eigentlichen Bedürfnissen vor. Grundbedürfnisse eines jeden Menschen sind etwa Sicherheit, Nähe und Autonomie.
Ich verspreche Ihnen: Es gibt zahllose Lösungen, wenn man die Bedürfnisse des anderen erst einmal verstanden hat und ernst nimmt.

Franz Wezel
Fokolar, Ottmaring:
Ein Satz von Johannes XXIII. begleitet mich immer wieder: „Alles sehen, vieles übersehen, manches korrigieren.“
Natürlich hätte ich gern, dass auch die anderen, mit denen ich lebe, sehen, was im Haus zu tun ist, und handeln. Wir haben uns doch alle vorgenommen, Gott auch in der Harmonie sichtbar zu machen. Gott, der Schönheit ist! Aber manchmal habe ich den Eindruck, der einzige zu sein, den die Brotkrumen auf dem Tisch, die Flecken auf dem Boden oder die Spinnweben an der Haustür stören. Es gab eine Zeit, da habe ich meine Unzufriedenheit laut verkündet oder äußerst demonstrativ aufgeräumt und geputzt. Die anderen sollten es merken und verstehen, dass sie auch gefordert sind. Am Ende hatte ich nur Stress und geändert hat sich – zumindest meinem Empfinden nach – nichts.
Seit einiger Zeit mache ich einfach, was zu tun ist. Möglichst unauffällig. Es tut mir gut, ich habe weniger Stress und vor allem: Ich habe eine Möglichkeit gefunden, Geschenk für die anderen zu sein. Nein, es gelingt mir nicht immer. Und vielleicht ist es auch nicht die endgültige Antwort, die ich in meinem Leben auf diese Frage geben werde. Aber im Augenblick ist es stimmig so.

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(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November/Dezember 2020)
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