1. Februar 2021

“Du bist unecht!”

Von nst5

Die einen sagen: „Ich bin halt so!“, wenn man sich an ihrer pampigen Art stößt. Die anderen bleiben auch dann noch zugewandt, wenn sie enttäuscht werden. Was ist der richtige Weg? Sich geben, wie man sich gerade fühlt? Oder die eigenen Bedürfnisse gegen die der anderen abwägen?

Anna Hüttl,
Beraterin für Start-Ups, Mannheim
„Du bist unecht!“ Diese Aussage meiner Mitbewohnerin hat mich hart getroffen und verletzt. Meine erste Reaktion war verständnisvoll, nachforschend. Ich wollte verstehen, was hinter dem Vorwurf steckt. Nach ein paar Tagen war ich wütend: „Was erlaubt sie sich eigentlich, so etwas zu sagen und meine Beziehung zu anderen Menschen zu beurteilen?“ Sie hatte Situationen beobachtet, in denen ich trotz Unstimmigkeiten und Verschiedenheit meine Zuneigung und Loyalität diesen Menschen gegenüber nicht infrage gestellt habe.
Trotz dieser Verletzung habe ich mich für den Weg entschieden, Frieden zu suchen. Das hat bedeutet, ihr den Tisch zu decken und etwas von meinem Essen übrig zu lassen, eine kleine Notiz zu hinterlassen, ihr bei der Masterarbeit zu helfen, das Gespräch zu suchen, erreichbar zu sein. Sicherlich nicht der einfachste Weg und vor allem ein schmerzhafter. Am Ende haben wir es nicht geschafft, uns wieder „zusammenzuraufen“, und sie ist ausgezogen. Ich bin im Reinen damit, weil ich meine Schritte auf sie zu – immer wieder – gegangen bin.
Was ich aus dieser Erfahrung lerne? Ich werde mich weiterhin für den Weg „zum Frieden“ entscheiden. Dazu gehört für mich nicht mehr nur kleine Taten der Liebe, Gespräche, in denen ich Verständnis für mein Gegenüber aufbringe, sondern auch, dass ich meine Gefühle und Bedürfnisse anspreche.

Ulrich Busch,
Diplom-Psychologe, Weilrod
„Wenn ich das jetzt sage, löst das garantiert eine hitzige Reaktion beim anderen aus, dann stoße ich auf Widerstand, dann zeigen mir die anderen die kalte Schulter.“ Solche Abwägungen wird jede und jeder kennen.
Leute, die dennoch einfach mit etwas herausplatzen, ohne sich um die Wirkung zu scheren, sagen: „Das ist mir egal“, riskieren aber, schnell als Querulanten oder als rücksichtslos zu gelten.
Aber auch, wer erst überlegt, was er sagen soll, jedes Wort abwägt, steht möglicherweise als jemand da, der er gar nicht sein möchte. Menschen, die sich lange damit beschäftigen, welchen Eindruck sie mit ihren Worten bei anderen hervorrufen könnten, gelten schnell als zögerlich, als zu vorsichtig, als schüchtern oder gar ängstlich.
Man mag den einen zurufen: Warte doch einen Moment ab, dann hast du den anderen nicht unnötig verletzt, das wolltest du doch gar nicht. Wenn du das häufiger machst, bist du auf lange Sicht ganz allein. Zeige auch einmal deine vorsichtige Seite.
Den anderen mag man raten: Trau dich, riskier einmal ein unüberlegtes Wort, das macht dich auf längere Sicht sicherer im Umgang mit Menschen. Ja, du wirst eventuell auf befremdliche Reaktionen stoßen. Das liegt daran, dass du neue Seiten an dir ausprobierst und dass du zeigst, was auch in dir steckt. So kann sich deine Identität festigen.

Elli und Dirk von der Heide,
Ehepaar, Friedberg
Die beiden Wege müssen aus unserer Sicht keine Gegensätze sein. Die eigenen Gefühle wahrnehmen und idealerweise die dahinterliegenden Bedürfnisse erkennen, hilft, dass jeder von uns ganz bei sich ist. Dann erst kann jeder von uns beiden die eigenen Wünsche und Bedürfnisse klar und offen äußern, und im Miteinander können wir schauen, was wann und wie möglich ist.
Um unsere Ehe lebendig zu halten, ist es wichtig, dass jeder dem anderen Raum für persönliche Wünsche und gesunde Egoismen gibt. Der andere ist halt so und soll sich auch ganz entfalten dürfen. Dann können wir darauf vertrauen, dass auch die Wünsche und Bedürfnisse des einen erfüllt werden – vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt.
In unserer Ehe haben wir uns mehr oder weniger bewusst entschieden, „ja“ zum anderen und seinen Bedürfnissen zu sagen. Hinzu kommen die Erfordernisse der Arbeitsstellen und die Anforderungen der drei Kinder, Zeiten für die Gottesbeziehungen und die Großfamilie. In dieser Gemengelage reicht es oft schon, dem anderen zu sagen, wie wir uns fühlen und was wir gerade eigentlich bräuchten, um dann mit besserer Laune wieder füreinander da zu sein. Wenn ich ganz bei mir bin, kann ich auch ganz bei dir sein!

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2021)
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