2. Februar 2021

Hoffnung durchscheinen lassen

Von nst5

Michael Berentzen ist Studentenseelsorger in Münster. Es macht ihm Freude, mit Studierenden den Glauben an Gott tiefer verstehen zu lernen und zu erleben, wie Kirche aussieht, wenn junge Menschen sie gestalten. ein eigener Weg macht ihn zu einem spannenden Begleiter.

Ungerechtigkeit ist etwas, das ihn auf die Palme bringt. Wenn Menschen sich über andere erheben, ist Michael Berentzen, 37, am Start. Und da ist noch etwas, worüber er sich ärgern kann: „Wenn Technik nicht funktioniert.“
Warendorf-Milte. Die Bauernschaft Beverstrang zeigt sich nass, kalt und menschenleer. Auch der Landgasthof „Zum kühlen Grunde“ hat geschlossen. Nur ein Smiley auf einer Schiefertafel lässt den Besucher schmunzeln. Hier war er zu Gast, der Studierendenpfarrer aus Münster. Genauer auf der anderen Straßenseite. Da liegt das Kloster Vinnenberg. Ein Ort der Sinnsuche. Die weiße Fassade reflektiert die ersten Sonnenstrahlen, die nach dem Schauer durch die Wolken dringen.
Michael Berentzen, der energiegeladene Priester in seinen besten Jahren, steigt aus. Sechs Tage lang. Stille. Unterbrechung. Mediale Abstinenz. Montag bis Samstag Schweigen. Einziges Medium ist die Bibel. Bei den Studierenden läuft das unter „digital detox“ – digitale Entgiftung. Für ihn ist es eine bewusst gewählte Begegnung mit sich selbst und all seinen Anteilen.
„Ich gehe da rein und sage mir: Was kommt, das kommt. Ich bin durchaus kampfeslustig. Nach drei, vier Tagen Stille mit ganz viel draußen in der Natur sein kommen die Themen.“
Eine innere Unruhe war zuvor da, die er nicht zuordnen konnte. Fragen tauchten auf nach dem Wo von Stille und Hören in seinem Leben, nach Orten der nicht verzweckten Zeit. „Es ist banal und existenziell zugleich. Bin ich wirklich zufrieden mit meinem Leben oder rede ich mir das nur ein? Wo stehe ich gerade? Kernfragen. Mein Weg als Priester. Wie ist es da?“

Foto: (c) KHG Münster
Porträtfoto Titel: Hubert Schulze Hobeling

Frankfurt am Main. Ein Donnerstag Ende Januar 2020. 230 Kleriker und Laien treffen sich zum Reformdialog. Schwerpunktthemen des „Synodalen Weges“ sind die Sexualmoral, die priesterliche Lebensform, Macht und Gewaltenteilung sowie die Rolle von Frauen in der Kirche. Michael Berentzen sorgt mit einem Änderungsantrag zur Geschäftsordnung für Aufsehen. Sein Ziel: Die Menschen der Synodalversammlung sollten sich künftig ohne akademischen oder kirchlichen Titel ansprechen. Er berührt ein Thema, das viele bewegt: der Wunsch nach einem Miteinander auf Augenhöhe.
Michael Berentzen ist Unternehmer-Sohn. Formen der titellosen Ansprache sind in einigen Unternehmen etabliert, weil es dort um flache Hierarchien und gemeinsame Ziele geht. „Diese Kulturelemente sind in der Kirche noch fremd. Deswegen habe ich vermutet, dass mein Antrag nicht angenommen wird. Ich wollte die Aufmerksamkeit aber trotzdem auf diesen Punkt lenken.“ 40 Prozent der Anwesenden stimmten dafür, 60 Prozent dagegen.
Haselünne im Emsland. Heimat. Der Name Berentzen steht hier für den Erfinder des Apfelkorns. Sein Vater war Manager im gleichnamigen Kornbrennerei-Unternehmen, dass sich bis 2008 in Familienbesitz befand.
Er hat drei Geschwister. Ein Bruder und die Schwester sind älter, ein Bruder jünger als er. „Ich war als Schüler eher faul, sehr zur Verwunderung meiner Eltern.“ Dennoch geht er gerne zur Schule. Er mag Leute um sich. Ein Höhepunkt: Die Theater-AG von Oberstudienrat Jürgen Thom. Die Bühne des Kreisgymnasiums St. Ursula wird für ihn zum besonderen Raum, das Miteinander zum Erlebnis.
Erlebnis-Räume zu schaffen, dieser Gedanke begleitet ihn schon länger. „Räume, in denen sich Menschen vorurteilsfrei bewegen können, in denen sich auch außerhalb von Schule und Familie so etwas wie ein Gemeinschafts-Gefühl entwickelt.“ Der Messdiener wird Gruppenleiter. Im Keller des Pfarrheimes entsteht ein offener Jugend-Treff. Das erste Internet-Café folgt. Bands treten auf. Das Badewannen-Rennen auf dem örtlichen Hase-Fluss wird aus der Taufe gehoben. Und er ist mittendrin. Er merkt, wie gut das tut, „in Räumen zu sein, in denen ich mich als wirkkräftig und wirksam erlebe.“
Etwas bewirken, das befeuert sein Leben. Nach dem Abitur ist gar nichts klar. Unternehmer werden wie sein Vater beschäftigt ihn. „Allein das Wort ist schon aufregend. Ich unternehme etwas. Ich übernehme Verantwortung. So erlebe ich meinen Vater bis heute.“ Aber bei Zahlen ist er ganz schnell raus. Eine seiner Grenzen. Eine Alternative muss her. „Klar war, ich gehe nicht zur Bundeswehr. Klar war Zivildienst. Unklar wo.“

Zivildienst im Ausland: Mexiko. – Foto: privat

Ein guter Freund erzählte ihm von der Möglichkeit, Zivildienst im Ausland zu machen. „Es gibt Momente in meinem Leben, in denen ich etwas höre und weiß, das ist es.“ Das war so ein Moment. „Ich wusste, da muss ich mich bewerben.“ Der Freund heißt Christoph Hegge. Er ist der Cousin seines Vaters und aktuell Weihbischof im Bistum Münster.
Cardonal, Mexiko. Ein Ort 185 Kilometer nord-östlich von Mexiko-Stadt im Bundesstaat Hidalgo, der drittärmste Mexikos. Hochland. Dorfstruktur. Indigene Bevölkerung. Es gibt Dörfer, in denen fast niemand mehr lebt und wenn, sind es alte Leute. Eigene Sprache über das Spanische hinaus. Ureigene Kleidung. Ureigene Musik. Krasse Konfrontation mit Armut, Perspektivlosigkeit und Landflucht.

Zivildienst in Mexiko. – Foto: privat

„Plötzlich bin ich aus allem raus. Du bist wie ein Kind, weil du nichts verstehst. Da lacht jemand und du weißt nicht, warum. Ganz viel Auf-mich-geworfen-Sein. Mir fällt dazu Johann Baptist Metz, der jüngst verstorbene Fundamental-Theologe ein. Er sagte: ‚Unterbrechung ist die kürzeste Definition von Religion.‘“
Cardonal ist Unterbrechung. Plötzlich mit Freiheit umgehen. „Was probiere ich aus?“ Cardonal ist Religion. Sein Zivildienst ist angeschlossen an eine Kirchengemeinde. Er unterstützt Familien, betreut Kinder, hilft bei Zeltlagern, Chören oder Gitarrenkursen. Er begegnet dabei einer Art von Frömmigkeit, die er von seinen Großeltern kannte, die aber in seinem Erleben nicht vorkam. Dazu kommen viele Gedankenspiele auf 2048 Meter über dem Meeresspiegel. Eine Frage taucht hin und wieder auf: Ist Priestersein eine Spur?

Mit mexikanischen Jugendlichen. – Foto: privat

„Der Gedanke war schon länger da, wenn ich meiner Grundschullehrerin Maria Jazdzejewski glauben darf. Dann kam er wieder in der 11. oder 12. Klasse. Ich dachte damals, da sehe ich mich eher nicht, zumal ich eine Freundin hatte.“ Seine Reaktion in Cardonal: Er sucht sich einen geistlichen Begleiter, einen deutschen Priester, der vor Ort ist, um das Thema ernst zu nehmen.
Parallel dazu begegnet er ihr. Ein Moment, den er nie vergessen wird. Sie heißt Gema und erfüllt sein Leben. Es ist Liebe. Er erzählt ihr von der Suche nach seinem Lebensweg. Sie werden ein Paar und gehen gemeinsam nach Deutschland.
Mexiko ist 2004. Die Entscheidung fällt 2012. Er steht kurz vor der Diakonen-Weihe. Sein Leben fühlt sich wie eine Achterbahnfahrt an. Oben. Unten. Kopfüber. Existenzielles Ringen. Oftmals hat er Lebens-Räume für andere geschaffen. Nun nutzt er einen für sich.

Foto: privat

Weggemeinschaft. Der Name ist Programm: eine Gemeinschaft von Studierenden verschiedener Fachrichtungen in Münster, die sich regelmäßig treffen, mal zum Bibelgespräch, mal zum Gottesdienst, mal zum Beten oder in die Mensa gehen. „Daraus sind für mich tiefe und bis heute prägende Freundschaften entstanden.“ Da ist Philippe van der Heede, ein belgischer Theologe, der zurzeit in Jerusalem lebt. Dazu zählt der Österreicher Klaus Edelmann, ein IT-Experte, der mittlerweile in Wien zu Hause ist. Beide bringen ihn mit den Ideen der Fokolar-Bewegung in Kontakt. „Ich habe einen Ort gefunden, an dem ich mit meinen Fragen sein kann. Sie tragen sie im Gebet mit. Ich lebe da mein Christsein, meine Nachfolge und verstehe mehr, in welche Lebensform mich diese Nachfolge führt.“
Gema ist in dieser Phase seine wichtigste Ansprechpartnerin, ein Leben mit ihr zuweilen realer als alles andere. „Sie hat mich an einem gewissen Punkt frei gelassen.“ Sie trennen sich. Er ist in der Mitte seines Theologie-Studiums und meint, Abstand von allem würde ihm guttun. Er plant, für eine Zeit in Lateinamerika weiter zu studieren. Als er ihr am Telefon von seinen Plänen erzählt, reagiert Gema empört: „Wir haben uns nicht getrennt, damit du in der Weltgeschichte herumrennst.“
Ihre Ansage trifft ihn. Er nimmt das Telefon und ruft den Leiter des Priesterseminars an.
Frauenstraße 3-6. Sitz der Katholischen Studierenden- und Hochschulgemeinde (KSHG) in Münster. Schräg drüben auf der anderen Straßenseite liegt das Antiquariat, in dem die Wilsberg-Krimis spielen. Gemeinsam mit Hanna Liffers leitet Michael Berentzen die Gemeinde seit drei Jahren.
Leitung heißt für ihn, in bestimmten Momenten voranzugehen. Keine Frage. Er drückt sich nicht vor Verantwortung. Aber er möchte sich auch nicht aus der Spannung entlassen, dass die Studierenden nicht weniger Kirche sind und nicht weniger Geist Gottes haben und nicht weniger Idee als er. Das klingt nach Räumen für ein Miteinander auf Augenhöhe.
„Es macht mir Freude, mit vielen unterschiedlichen Studierenden den Glauben an Gott tiefer verstehen zu lernen und zu erleben, wie Kirche aussieht, wenn junge Menschen sie gestalten.“
Zudem ist er als Gesprächspartner gefragt. Bruder sein und Wegbegleiter ist das, was ihm zusagt. Raum geben. Zuhören. Da sein. „Und sei es nur, dass ich die Gewissheit ausstrahle: Du wirst deinen Weg finden, wenn du in dich hineinhörst. Denn es gibt jemanden, der dich begleitet, der nichts anderes im Sinn hat, als dass du diesen Weg findest.“

Michael Berentzen. – Foto: Hubert Schulze Hobeling

Atempause. Menschen wie er sind Hoffnungsträger. Er steht mitten im Leben und mitten in der Kirche. Ihre Themen sind seine Themen. „Es ist so viel, was an uns nagt.“ Positiv gesinnte Menschen wie sein Vater und seine Mutter, eine hochengagierte Kommunalpolitikerin, prägen ihn. „Ich bin hoffnungsvoll und freue mich, wenn das hier und da durchscheint. Hoffnung ist etwas, für das ich stehen möchte.“
Genießen zu können kommt dazu. Er kocht gerne. Es kann noch so spät sein. „Ich bin kein Rezept-Typ.Ich probiere gerne Dinge aus.“ Er speist sein Leben aus vielen Quellen. Seine Geschwister und er, sie halten zusammen. Sonntags ist Familien-Chat-Zeit.
Kontemplation am Morgen, das macht er einmal in der Woche mit Studierenden, mit denen er zusammenwohnt. Still werden, den Blick auf Wesentliches richten. Daher auch der wöchentliche Treff mit anderen Priestern, die von der Spiritualität der Fokolar-Bewegung fasziniert sind. Raum für Vertrauen und Offenheit. „Wir sind füreinander da.“ Weitere Angebote gibt es. Supervision. Geistliche Begleitung. „Das Passende zu ergreifen ist mein Teil.“
„Primiz“ heißt die erste von einem römisch-katholischen Priester als Hauptzelebrant gefeierte heilige Messe. Dafür hat sich Michael Berentzen eine Zeile aus dem bekanntesten Gebet der Christen – dem „Vaterunser“ als Motto ausgesucht: „Dein Reich komme“. In diesem Wunsch, den Jesus an seinen Vater richtet, findet sich der Seelsorger wieder. „Dein Reich komme ist ein Ausdruck der Seele Jesu. Dein Reich komme. Dafür hat er gelebt. Dein Reich komme. Dafür möchte ich mitleben.“
Hubert Schulze Hobeling

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2021)
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