2. Februar 2021

Nicht Herren, sondern Diener Eurer Freude

Von nst5

Standpunkt

Geistlicher Missbrauch als „Verletzung spiritueller Selbstbestimmung“ 1 geschieht in drei Eskalationsstufen:

  • Spirituelle Vernachlässigung: Es wird keine oder nur eine einzige geistliche Deutung und Tradition angeboten. Dadurch fehlt der Blick auf alternative Zugänge und Abhängigkeit wird begründet.
  • Spirituelle Manipulation: Es wird durch einseitige spirituelle Interventionen in eine bestimmte Erlebens- und Verhaltensrichtung gedrängt. Ziel ist es, die Person zu destabilisieren und so zu beherrschen.
  • Geistliche Gewalt: Wille und Freiheit der Person sind so geschwächt, dass sie bis hin zu körperlicher und sexualisierter Gewalt keinen Widerstand mehr leistet.

Eine gemeinschaftliche Spiritualität kann als offener und wechselseitig verantwortlicher Austausch Geistlichen Missbrauch erschweren. Aber sie kann auch Nährboden spiritueller Einseitigkeit und Vernachlässigung sowie geistlicher Manipulation und Gewalt sein, wenn etwa unter Verweis auf „Jesus in der Mitte“ Konflikte tabuisiert oder Einzelne gegen ihr Gewissen gedrängt werden, eine von anderen getroffene Entscheidung mitzutragen.
Wie kann ich Geistlichen Missbrauch erkennen und verhindern?
Paulus gibt einen wichtigen Hinweis: „Wir sind nicht Herren über euren Glauben, sondern Mitarbeiter eurer Freude.“ 3 Wo geistliche Beziehungen gelingen, führen sie zu einem Mehr an Freude. Dies meint nicht, dass dann alles Spaß macht. Aber auch in inneren Nöten und dunklen Zeiten sollte immer wieder erfahrbar sein, dass es Schritte auf einem Weg näher zu Gott und dem Leben sind. 2) Wo diese tiefere Dynamik nicht erlebbar ist, wo Menschen zunehmend erschöpft, isoliert oder gar abgestumpft wirken, wo Kontakte beschränkt oder abgebrochen werden, da sollten wir wach sein für die Gefahr spirituellen Missbrauchs.
Die entscheidende Haltung, um Geistlichen Missbrauch zu verhindern, ist, mit ihm zu rechnen. Macht und die Frage der Über- und Unterordnung spielen in allen menschlichen Beziehungen eine Rolle – in der Zweierbeziehung wie in jeder Gemeinschaft. Entscheidend für Gelingen oder Missbrauch sind Transparenz und Ehrlichkeit.
Geistlicher Missbrauch wirkt so verhängnisvoll, da er auf die tiefste Lebenswurzel des Menschen, seinen Halt in Gott, abzielt. Dem Leben und Glauben dienende Geschenke geistlichen Lebens werden so vergiftet, dass sie nicht mehr hilfreich sein können; wenn etwa die „Liebe zu Jesus in seiner Verlassenheit“ missbraucht wird, um autoritäre Leitungsentscheidungen zu kaschieren oder in der „Unterscheidung der Geister“ am Ende die Leitungsperson diktiert, was Gottes Wille ist.
Jede und jeder von uns kann in die Situation kommen, spirituell missbraucht zu werden, aber auch andere zu missbrauchen, wenn wir meinen, wir wüssten, was für sie gut ist. Hier kann in bester Absicht gehandelt und doch eine Grenze verletzt werden. Die Deutungshoheit darüber, was Geistlicher Missbrauch ist und was nicht, muss immer bei den Betroffenen liegen. Insofern ist die beste Prävention das offene Gespräch darüber, wie das geistliche Miteinander und darin auch Leitung und Begleitung erlebt werden.

Dr. theol. Dipl. Psych. Bernhard Deister, geb. 1969, verheiratet, 3 Kinder, Krankenhausseelsorger und Referent für Geistliche Begleitung sowie Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft der Geistlichen Bewegungen und Gemeinschaften im Bistum Mainz.
Für die Fokolar-Bewegung ist Bernhard Deister seit Sommer 2019 externes Mitglied der Kommission gegen sexualisierte Gewalt und seit Januar ein Ansprechpartner in der Kontaktstelle.

1 Vgl. hierzu und zum Folgenden: D. Wagner, Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche, Herder, Freiburg im Breisgau, 2019
2 Vgl. ausführlicher: Bernhard Deister, Diener Eurer Freude (2 Kor 1,24)– Hinweise zur Prävention von Geistlichem Missbrauch im Kontext Geistlicher Bewegungen und Gemeinschaften, veröffentlicht in der Korrespondenz für die Spiritualität der Exerzitien 2019-1 und auf geistlich.net
3 Zweiter Korintherbrief, 1,24

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2021)
Ihre Meinung ist uns wichtig, schreiben Sie uns! Anschrift und E-Mail finden Sie unter Kontakt.
(c) Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München