2. Februar 2021

Wohlwollend und aufrichtig

Von nst5

Standpunkt

Im Zusammenleben in einer Fokolar-Gemeinschaft hat in der Regel niemand der Mitglieder eine professionelle Ausbildung in geistlicher oder psychologischer Begleitung, auch die oder der Verantwortliche nicht. Mein Verständnis von „Begleitung“ ist demzufolge ein Alltagsverständnis: Wir sind Weggefährtinnen. Und wir sind füreinander da, wohlwollend, aufrichtig, engagiert.
Jede von uns hat die Möglichkeit, sich in diesem alltäglichen Miteinander weiterzuentwickeln.
Mir geht es so: Das Leben des Wortes Gottes hilft mir, geistlich bodenständig zu sein, eine ganz andere, göttliche Dimension einzukalkulieren und es als gegeben anzusehen, dass wir alle der Barmherzigkeit Gottes sowie untereinander bedürfen.
Kleine Fortbildungen, etwa in Gewaltfreier Kommunikation, haben mir weitergeholfen. Eine Schlüsselerkenntnis war die Unterscheidung zwischen Bedürfnissen – wie Sicherheit, Autonomie, Kreativität – und Gefühlen – wie Freude, Angst, Einsamkeit. Wenn ich sehen kann, dass hinter jedem starken Gefühl und hinter jeder persönlichen Kritik letztlich ein unerfülltes (Grund-)Bedürfnis steht, und wenn ich dem ernsthaft auf die Spur gehe, höre ich das Gesagte nicht mehr als Kritik. Es kann eine tiefe Verbindung mit dem Anderen entstehen. Von dem mittelalterlichen persischen Dichter Rumi stammt das Wort: „Jenseits von richtig und falsch gibt es einen Ort. Hier können wir einander begegnen.“ Wunderbar!
Jede Art von Konflikttraining tut gut. Wohlgemerkt: Es geht um das Training, Konflikte (gut) auszutragen, nicht, sie zu vermeiden! Kommunikationstraining hilft, dass die eigene Sprache klarer wird und nicht im Miteinander-Reden die Zusammenhänge „vernebelt“ werden, was im Alltag erstaunlich häufig geschieht.
Mir hat Supervision gutgetan und Sicherheit gegeben, und zwar durch eine der Gemeinschaft externe Person: Es gibt in unseren Gemeinschaften Verhaltensmuster, die wir selbst nicht sehen können, weil wir zu nah dran sind. Wir benötigen manchmal eine Person, die von außen die richtigen Fragen stellt und auf eventuelle Schieflagen hinweisen kann.
Und dann sind da die „zufällig“ sich ergebenden Gespräche – mit Freunden, Bekannten, der Osteopathin, dem Physiotherapeuten, der Miturlauberin, dem Beichtvater, … Manch einer hat mir aufgrund seines Berufes oder seiner Lebenserfahrung überraschende Dinge gesagt – auch wenn ich gar nicht danach gefragt hatte.
Ein Grundsatz hat sich in mir fest ausgebildet: Es geht nicht an, die Probleme anderer Menschen lösen zu wollen. Es steht mir nicht zu! Bereits das wäre übergriffig, weil ich den anderen entmündige, wenn ich zu wissen meine, was er wie braucht und wenn ich unterstelle, er könne das nicht selbst. Richtig aber ist, dass ich mich selbst und andere stärken kann, Schwierigkeiten anzuschauen, um sie couragiert und kraftvoll anzugehen. Egal, ob in erzieherischer Funktion mit Kindern und Jugendlichen in der Schule, gleich ob in einer kollegialen, einer geschwisterlichen, einer freundschaftlichen oder einer verantwortlichen Perspektive in der Gemeinschaft: Einander begleiten heißt für mich, als Mutmacher und Starkmacher aktiv zu sein.


Margarete Hovestadt gehört zu einer Fokolargemeinschaft in Augsburg und ist zurzeit deren Verantwortliche. Die gebürtige Westfälin lebte vorher in Leipzig und München. Dort unterrichtet sie auch Deutsch, Geschichte und Italienisch an einem Gymnasium. Geistlichem Missbrauch vorzubeugen, heißt für sie unter anderem, offen miteinander zu reden, Konflikte gut auszutragen und nicht die Probleme anderer Menschen lösen zu wollen.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2021)
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