8. April 2021

Einander als Geschenk entdecken

Von nst5

Wenn ich mit meinem „kleinen Bruder“ zusammen bin, merke ich in manchen Momenten sehr, dass ich 15 Jahre älter bin.

Eine letztes Jahr verstorbene 99-jährige Freundin hingegen wurde nicht müde, immer wieder zu sagen, dass ich ja noch „so jung“ sei. Nie habe ich meine „typisch deutschen“ Charakterzüge so sehr wahrgenommen, wie dann, wenn ich mit Menschen aus anderen Kulturen zusammengelebt habe. Wie stark ich in manchem „katholisch“ geprägt bin, erlebe ich meist nur im Kontakt mit „Evangelischen“.
In der Begegnung mit anderen lerne ich etwas über sie, ihre Eigenheiten, Gaben und Ansichten, aber manchmal lerne ich dabei noch viel mehr über mich selbst. Und ich verändere mich dabei, weil mir bewusster wird, was mich ausmacht, was mir wichtig ist und worauf ich andererseits auch verzichten kann. Das passiert aber nur, wenn wir einander begegnen, uns aufeinander einlassen. Nicht, wenn wir einfach nur – auf Distanz – nebeneinander her leben. Ob ich die Andersartigkeit des anderen dann als bereichernd oder eher als infrage stellend erlebe, hängt nicht nur vom anderen ab, sondern ganz oft von mir, von meiner Befindlichkeit, von meiner inneren Grundhaltung.

Titelfoto: (c) JamesBrey (iStock)

„Der Nächste ist geschaffen als Geschenk für mich; ich bin geschaffen als Geschenk für ihn. Alles auf der Welt ist durch die Liebe aufeinander hin geordnet.“ Dieser Gedanke von Chiara Lubich hat mich beschäftigt, als ich mir die Beiträge zum Zusammenleben in unserer Gesellschaft in diesem Heft vor Augen geführt habe. Vor allem, weil er dann so weitergeht: „Freilich muss man die Liebe leben, um den goldenen Faden zu entdecken …“
Damit wir einander – auch in unserem „postmigrantischen Zusammenleben“ – immer mehr als Geschenk entdecken und wahrnehmen können, müssen wir innerlich dazu bereit sein; kurz: Wir müssen es wollen – als Einzelne und als Gesellschaft.
Wer in diesem gesellschaftlichen Zusammenhang die Schenkenden und wer die Beschenkten sind – jene, die scheinbar schon immer hier leben oder diejenigen, die irgendwann aus einem anderen Land gekommen sind – ist keineswegs eindeutig. Ganz sicher verändert ein solches Miteinander aber Schenkende und Beschenkte. Denn die einen wie die anderen werden sich in dieser gegenseitigen Dynamik auch selbst ganz neu wahrnehmen.
Die anderen als Geschenk entdecken wollen, ist eine Entscheidung, die ich in jedem Moment bewusst treffen kann und will. Das wird meinen Blick und meine Haltung auf sie dann prägen. Vielleicht werde ich, werden wir sogar, „weiter“, „offener“, „christlicher“… Das klingt in meinen Ohren verlockend und ist es wert, sich darauf einzulassen. Ich wünsche uns, dass wir mit Stefano Amberg dann sagen können: „Ich habe auf jeden Fall gewonnen.“
Herzlich,

Ihre
Gabi Ballweg

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(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März/April 2021)
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